Fliedernächte: Roman (German Edition)
dabei einen Meter vorwärtskam. Weshalb tat man nicht stattdessen etwas Konstruktives? Eine Sporthalle mit Boxring, Sandsäcken und ein paar ordentlichen Hanteln wäre ja durchaus okay gewesen. Aber ein Fitnessstudio? Das war in seinen Augen was für Mädchen, die Yoga und Pilates liebten. Allerdings konnte man dort Frauen in knappen, eng sitzenden Trikots begutachten, rief Ryder sich in Erinnerung. Immerhin ein schwacher Trost.
Er stieg aus seinem Pick-up, und Dumbass sprang eilig hinterher. Ryder fragte sich, weshalb er überhaupt so schlechter Laune war. Alle Arbeiten liefen nach Plan, die eigenen ebenso wie die fremden. Außerdem war es eindeutig besser, viel zu tun zu haben, als herumzusitzen und auf Aufträge zu warten. Die Strandhütte auf Barbados musste eben noch ein Weilchen warten. Zur Not bis ins Rentenalter.
Warum also war er mies gelaunt? Er schaute zum Hotel. Es lag eindeutig an Hope Beaumont.
An ihrer Arbeit gab es nichts auszusetzen. Sie war echt gut, ein bisschen zwanghaft ordentlich und detailversessen vielleicht, doch damit konnte er umgehen, weil sein Bruder Owen genauso war. Irgendwas anderes war an der Frau, das ihn irritierte, ihm unter die Haut ging – und das immerhin seit jenem blöden Silvesterkuss. Seit dieser Zeit verspürte er prompt ein seltsames Verlangen, sobald er sie sah.
Dabei war es bloß durch Zufall zu dem Kuss gekommen. Vollkommen spontan. Ein spontaner Zufall sozusagen – Wiederholung völlig ausgeschlossen. Was allerdings leichter fiele, wenn sie plump und unattraktiv wäre und nicht so verdammt hübsch. Ryder stellte sie sich deshalb bisweilen als Matrone fortgeschrittenen Alters vor, die strickend vor dem Fernseher saß und Seifenopern anschaute. »Eines Tages wird sie bestimmt so aussehen«, pflegte er zu seinem Hund zu sagen, und der wedelte zustimmend mit dem Schwanz.
Schulterzuckend ging er weiter hinüber zu dem Haus, das gerade für Averys neues Restaurant umgebaut wurde und wie andere Gebäude am Markt den Montgomerys gehörte. Sie hatten eigens eine Wand zum Nebengebäude eingerissen, damit die Essensgäste vom Restaurant in die Bar und umgekehrt wechseln konnten.
Ein stilvolles Ambiente für Leute, die gepflegt speisen und sich anschließend ebenso gepflegt unterhalten wollten, wünschte sich Avery. Nun ja, dachte Ryder, jedem das Seine. Er persönlich hatte eine Schwäche für das weniger vornehme Vesta und die riesige Kriegerpizza, die man dort bekam. Trotzdem war er überzeugt, dass Avery den Laden schon schmeißen würde.
Er trat in den Durchgang und betrachtete den Barbereich, konnte sich genau vorstellen, wie es dort einmal aussehen würde mit der langen Theke aus dunklem Holz. Hier würde man bekommen, was man in einer gut bestückten Bar erwarten durfte, wobei ein Highlight sicher die frisch gezapften verschiedenen Biersorten sein würden. Und das war durchaus nach seinem Geschmack, denn Ryder liebte sein Feierabendbier. Doch noch war es nicht so weit. Er drehte sich um, schaute kurz in der Bäckerei herein, ob dort die Maler wie vereinbart eingetroffen waren, und machte sich auf den Rückweg zum Parkplatz, um mit seinen Brüdern die neue Baustelle in Augenschein zu nehmen. Sicher hatte Owen Kaffee und Gebäck für alle dabei, daran würde er selbst im Katastrophenfall denken. Bestimmt war heute Morgen erst mal der zu erwartende Familiennachwuchs Thema.
Grundgütiger Himmel, Zwillinge. Vielleicht lenkten die Enkelkinder ihre Mutter wenigstens vorübergehend davon ab, sich neue Projekte auszudenken.
Eher unwahrscheinlich, dachte Ryder mit leichtem Bedauern und betrat den Raum, der während der Bauarbeiten als Büro dienen würde.
Kaffeeduft. O ja, auf Owen war Verlass.
Er schnappte sich den Becher, den sein ordentlicher Bruder mit einem R beschriftet hatte, trank den ersten Schluck, öffnete den Deckel des Gebäckkartons, während sein Hund bereits erwartungsvoll mit seinem Schwanz auf den Boden klopfte und dankbar seinen Anteil an dem mit Marmelade gefüllten Donut entgegennahm.
Irgendwo im Labyrinth der Räume hörte Ryder die Stimmen seiner Brüder, zog es aber vor, hier auf sie zu warten. Mit seinem Kaffee ging er hinüber zu der aufgebockten Sperrholzplatte, um die dort ausgebreiteten Pläne zu betrachten. Er sah sie natürlich nicht zum ersten Mal, und doch beeindruckten ihn Becketts Entwürfe immer wieder aufs Neue. Er war einfach genial darin, verwertbare Teile eines alten Hauses einzubeziehen, anstatt alles dem Erdboden
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