Flieg, Hitler, flieg!: Roman
und zeigte mit dem Finger auf ein Dach.
»Ist jemand bewaffnet?«
Ein weiterer Schläger wurde am Kopf getroffen und fiel nach hinten, während Blut aus seiner Schläfe strömte. Danach kam es zu einem allgemeinen Rückzug. Albertson mühte sich auf die Füße und versuchte, ein Stück Ziegelstein, das er im Rinnstein gefunden hatte, auf den Angreifer zu werfen, aber dieser war hinter ein paar Schornsteinen verborgen. Mehrere von Albertsons Leuten drängten sich schutzsuchend an die Mauer eines Lagerhauses für Möbel, das außerhalb der Reichweite der Wurfgeschosse lag, und er rannte zu ihnen hinüber, während zwei weitere Ziegelsteine hinter seinen Hacken auf den Boden donnerten.
»Das ist doch eine Witznummer. Was zum Teufel sollen wir machen? Weiß jemand, wie wir da raufkommen?«
Keiner wusste es.
»Hat jemand sein Gesicht gesehen?«
»Sah aus wie der verdammte Scheißkerl mit dem Grinsen. Hab den Namen vergessen.«
»Sei kein Idiot. Der ist einer von uns«, sagte Albertson.
»Ich hab doch gesagt, dass der jüdisch aussieht.«
»Wenn wir den Bastard damit durchkommen lassen, und der Chef hört davon …«
»Hey, hey, hey, seid mal still – still sein, hab ich gesagt – was ist das?«
Direkt über ihnen hörte man das leise Schaben von Füßen auf Splitt.
»Er ist direkt über unseren Köpfen. Der klettert auf dem Dach rum wie ’ne verdammte Katze. Was zum Teufel sollen wir tun?«
»Wir brauchen ’ne Schusswaffe«, sagte Albertson und starrte grimmig in die Höhe. »Das ist die einzige Möglichkeit.« Er musste blinzeln, weil ihm die Sonne in die Augen schien, aber er glaubte, oben auf dem Lagerhaus eine Bewegung zu sehen.
Er täuschte sich nicht. Sinner hatte seinen Hosenschlitz aufgeknöpft und war an den äußersten Rand des Dachs getreten.
»Ach, du heilige Scheiße!«, heulte Albertson auf, als ein Urinstrahl ihn erblinden ließ. Als er rückwärts aus dem goldenen Bogen sprang, stolperte er über die Bordsteinkante, verlor das Gleichgewicht, streckte in der Hoffnung auf eine feste Schulter beide Arme aus, drehte sich anmutig auf dem Absatz und knallte mit dem Gesicht voran auf die Straße – wobei er bewusstlos wurde, sich die Nase brach und seiner Stirn das geometrische Muster eines eisernen Kanaldeckels aufprägte.
So kam es, dass Seth Roach in etwa der einzige Jude in London war, der in der Battle of Cable Street Schwarzhemden vertrieb. Hunderte behaupteten anderes – Albert Kölmel zum Beispiel prahlte in einem Brief an seinen Bruder Judah in New York damit, dass er Mosley persönlich was auf die Schnauze gegeben habe. Aber abgesehen von ein paar glücklosen faschistischen Spätankömmlingen waren es nur die vorsorglich eingesetzten Reihen der berittenen Polizei, die mit den Stuhlbeinen, den Feuerwerkskörpern und dem faulen Obst konfrontiert wurden. Gegen vier Uhr nachmittags schickte man die Demonstranten nach Hause, ohne dass sie weiter vorgedrungen wären als bis zur Royal Mint Street.
Nachdem er von den Dächern heruntergestiegen war, wanderte Sinner eine Weile mit einer Flasche Gin in der Hand durch die Massen. (»Gib mir mal ’nen kleinen Schluck«, hatte er zu dem ursprünglichen Besitzer der Flasche gesagt, einem schmächtigen, vertrauensseligen Schlachterlehrling, den er noch aus den alten Zeiten vom Spitalfields Market kannte.) Jetzt war Sinner wieder da, wo er hingehörte, aber trotzdem plagte ihn etwas: Erskine. Nicht dass er sich schuldig fühlte, weil er ihn auf Gedeih und Verderb an Pock und dessen Freund ausgeliefert hatte. Nein, im Gegenteil: Er hatte nicht genug getan. Also drehte er bald in Richtung Nordwesten ab, weg von den Zusammenstößen, hin zum Zentrum von London – zurück zu Erskines Wohnung in Clerkenwell.
Als er endlich dort ankam, hatte er die ganze Flasche Gin getrunken und in einem Laden in Moorgate noch eine gekauft. Mrs. Minton erkannte ihn, aber als sie sah, wie betrunken er war, wollte sie ihn nicht in Erskines Wohnung lassen. Sinner sagte, das sei egal, weil er einen Schlüssel habe. Dann wartete er einfach, bis Mrs. Minton murrend in ihrer eigenen Wohnung verschwunden war und ihr Radio angestellt hatte, ging nach oben und brach Erskines Tür auf, wobei er sich die Schulter prellte.
Die Wohnung war genauso, wie er sie in Erinnerung hatte. Auf dem Tisch in der Diele lag ungeöffnete Post, die Mrs. Minton vermutlich an diesem Morgen hochgebracht hatte. Sinner riss alle drei Umschläge auf. Eine Schneiderrechnung, ein
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