Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Titel: Flieg, Hitler, flieg!: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ned Beauman
Vom Netzwerk:
Rundschreiben der Royal Entomological Society, und dann dieses:
    Verehrter Doktor Erskine!
    Ich habe Geschenke von Päpsten, Magnaten und Staatsoberhäuptern erhalten, aber keines war so einzigartig und unerwartet wie Ihre freundliche Gabe. Sie ist eine Mahnung, daß die Siege des Wissenschaftlers keinen Deut weniger wichtig für unsere Zukunft sind als die Siege des Soldaten. Ich hoffe, Sie halten mich über den Fortgang Ihrer Arbeit auf dem laufenden – vielleicht wird das Dritte Reich eines Tages eine Position für Sie bereithalten. Wie gut sprechen Sie Deutsch?
    Mit vorzüglicher Hochachtung
    Adolf Hitler
    Reichskanzler
    Sinner verstand die meisten Wörter nicht, und er wusste nicht viel über Hitler, aber er erkannte den Namen, und er kannte Erskine gut genug, um zu wissen, dass dieser sich ungemein freuen würde, einen solchen Brief zu bekommen. Also knüllte er den Brief zusammen und steckte ihn in seine Tasche; dann kippte er den Tisch um. Er durchquerte den Raum, nahm das gruslige Gemälde mit der Leichensektion von der Wand und warf es aus dem Fenster. Dann ging er ins Labor, das nicht abgeschlossen war.
    Die alte Schulkiste, die Anophthalmus hitleri beherbergt hatte, war nicht mehr da. An ihrer Stelle stand ein Terrarium, das nach einer Spezialanfertigung aussah. Der Deckel, der Sockel und drei der vier Seitenwände waren aus Stahl, während die vierte Seite aus dickem Glas bestand und von einem Stahlgitter noch verstärkt wurde. Das Terrarium war angefüllt mit Erde und Hühnerknochen, und durch das Gitter konnte Sinner die gelegentlichen flitzenden Bewegungen der Käfer im Inneren sehen. Er schloss die Tür des Labors, dann ging er wieder zu dem Behälter, löste den Riegel am Deckel, öffnete ihn, hob das Terrarium in die Höhe und kippte alles auf den Boden, genau wie Erskine ihn damals den Inhalt des zerbrochenen Glasbehälters in die Schulkiste hatte kippen lassen. Sofort kamen mehrere Käfer aus dem Berg Erde angeschossen und flüchteten in die Ecken des Raums; aber Erskine, der eine Wiederholung des Desasters mit dem Enicocephaliden seiner Studienzeit vermeiden wollte, hatte jede noch so kleine Lücke in der Fußleiste abgedichtet, sodass sie keine Fluchtmöglichkeit hatten und Sinner herumlaufen und einen nach dem anderen unter dem Hacken seines Stiefels zerquetschen konnte. Oft musste er zwei- oder sogar dreimal heftig aufstampfen, bis sie aufhörten zu zappeln. Danach durchwühlte er mit dem Fuß die Erde. Alle weg.
    Er feierte das mit einem großen Schluck Gin und ließ die leere Flasche auf den Boden fallen. Inzwischen war er enorm betrunken. Genau genommen war er seit der Nacht des polnischen Honigmets nicht mehr so wacklig auf den Beinen gewesen, und obgleich er keinerlei Absicht hatte, hierzubleiben, hielt er es für eine gute Idee, sich in seinem alten Zimmer ein wenig hinzulegen. Danach würde er aufstehen, sich wieder auf den Weg nach Osten machen und jede einzelne Person in Whitechapel, jeden einzelnen der Zehntausenden von Männern und Frauen und Kindern, die heute auf der Straße waren, fragen, ob sie Anna in den letzten drei Jahren gesehen hatten. Und wenn ihn irgendwer anlog, dann würde er es merken, und er würde ihn verprügeln, wie er seinen Vater immer verprügelt hatte. Doch als er gerade aus dem Labor torkeln wollte, entdeckte er ein letztes Insektenpaar, das auf Erskines Bücherregal hockte. Er machte einen Satz auf sie zu, fing sie mit der Hand ein und hielt sie sich vor das Gesicht, um sie genauer zu betrachten. Sofort verspürte er einen stechenden Schmerz und erkannte überrascht, dass einer von ihnen eine blutende Wunde an seinem Zeigefinger verursacht hatte. Seit wann konnten Käfer durch die Haut beißen? Irgendwie erinnerten sie ihn an Erskine, wie sie mit ihren kleinen gemusterten Flügeln herumzappelten und gereizt nach seinen schmuddeligen Händen schnappten. Er dachte darüber nach, sie aufzuschneiden, um zu sehen, wie sie innen drin aussahen, aber er hatte sein Messer verloren, als er auf den Dächern herumgeklettert war. Aus einer Laune heraus stopfte er sich beide in den Mund.
    Sinner biss zu und fühlte, wie ihre schwarzen Beine zwischen seinen Zähnen knirschten. Gebraten und gesalzen, dachte er, würden sie wahrscheinlich nicht schlechter schmecken als Schweineschwarten. Aber bevor er noch einmal zubeißen konnte, weiteten sich seine Augen, und sein Kiefer erstarrte. Er konnte nicht atmen. Die Käfer krochen ihm in den Hals.
    Verzweifelt griff er sich an

Weitere Kostenlose Bücher