Fliegende Fetzen
der Tasche des Patriziers. Der Mann war keineswegs ein Gefangener, es sei denn, man legte dumme, langweilige Maßstäbe an. Er schien sich gern in dieser hellen, luftigen Mansarde aufzuhalten: Immerhin bekam er so viel Holz, Papier, Holzkohlestifte und Farbe, wie er wollte, ohne für Kost und Logis bezahlen zu müssen.
Außerdem konnte man jemanden wie Leonard von Quirm überhaupt nicht richtig einsperren. Es war höchstens möglich, seinen Körper hinter Schloß und Riegel unterzubringen. Allein die Götter wußten, wohin seine Gedanken reisten. Zwar war er so intelligent, daß gelegentlich Klugheit aus ihm tropfte, aber er konnte nicht einmal dann feststellen, woher der politische Wind wehte, wenn man ihn mit Segeln ausstattete.
In Leonards unglaublichem Gehirn brodelte es die ganze Zeit wie in einer prall gefüllten Fritteuse auf der heißen Herdplatte des Lebens. Es ließ sich einfach nicht feststellen, was ihm gleich durch den Kopf gehen würde, denn er wurde ständig vom ganzen Universum neu programmiert. Der Anblick eines Wasserfalls oder eines dahinsegelnden Vogels veranlaßte ihn, über einen neuen Pfad praktischer Spekulation zu eilen, der unweigerlich in einem Haufen aus Draht und Federn sowie dem Ruf »Jetzt weiß ich, wo der Fehler liegt!« endete. Er war Schüler der meisten Handwerksgilden in der Stadt gewesen, war jedoch verstoßen worden, weil er bei den Prüfungen unerhört hohe Punktzahlen erreicht oder in manchen Fällen die Fragen korrigiert hatte. Es hieß, er hätte unabsichtlich das Laborgebäude der Alchimistengilde in die Luft gejagt – mit einem Glas Wasser, einem Löffel Säure, zwei Drähten und einem Tischtennisball.
Ein vernünftiger Herrscher hätte Leonard längst umbringen lassen, und Lord Vetinari war
sehr
vernünftig. Manchmal dachte er über die Frage nach, warum er sich dagegen entschieden hatte. Vielleicht lag es daran, daß sich im kostbaren, wissensdurstigen Bernstein von Leonards Bewußtsein und unter seinem unermüdlichen Genie eine Unschuld verbarg, die man bei geringeren Personen für Dummheit hätte halten können. Dort wohnte die Seele jener Kraft, die über Jahrtausende hinweg Menschen dazu veranlaßt hatte, ihre Finger in die Steckdose des Universums zu bohren und anschließend mit dem Schalter zu spielen, um festzustellen, was passierte – in den meisten Fällen waren sie sehr überrascht, weil tatsächlich etwas geschah.
Mit anderen Worten: Leonard war etwas Nützliches. Und eins konnte man gewiß vom Patrizier behaupten: Er war das politische Äquivalent einer alten Dame, die Teile von Bindfäden aufbewahrte, weil sie irgendwann einmal zu verwenden waren.
Man konnte nicht für jede Eventualität planen, denn dazu mußte man wissen, was geschehen würde. Und wenn man
wußte,
was geschehen würde, so konnte man vermutlich dafür sorgen, daß es nicht geschah – oder daß es jemand anderen zustieß. Deshalb plante der Patrizier nicht. Pläne waren oft nur im Weg.
Außerdem ließ er Leonard am Leben, weil er ihn für einen angenehmen Gesprächspartner hielt. Er verstand nie, wovon Lord Vetinari sprach, und sein Weltbild mochte in etwa so komplex sein wie das eines Entenkükens mit Gehirnerschütterung. Eigentlich achtete er nie wirklich darauf, worum es ging, und das machte ihn zu einem hervorragenden Vertrauten. Wenn man bei jemandem Rat sucht, so erwartet man eigentlich gar nicht, daß man auch Rat bekommt. Man möchte nur Gesellschaft haben, während man mit sich selbst redet.
»Ich habe gerade Tee aufgesetzt«, sagte Leonard. »Möchtest du eine Tasse?«
Leonard folgte dem Blick des Patriziers zu einem braunen Fleck, der an einer Wand emporreichte und oben in einen Stern aus geschmolzenem Metall mündete.
»Ich fürchte, das mit der automatischen Teemaschine hat nicht richtig geklappt«, sagte er. »Mir bleibt nichts anderes übrig, als die manuelle Methode zu benutzen.«
»Sehr freundlich«, erwiderte Lord Vetinari.
Er nahm inmitten der Staffeleien Platz und blätterte durch die letzten Skizzen, während Leonard am Kamin tätig wurde. Leonard von Quirm skizzierte so, wie andere Leute kritzelten. Geniales – Geniales von einer
gewissen
Art – fiel wie Schuppen von ihm ab.
Lord Vetinari sah das Bild eines Mannes, der malte: Die Linien stellten die Gestalt so gut dar, daß sie eine dritte Dimension gewann und aus dem Papier herauszuragen schien. Leonard vergeudete niemals Platz, weshalb andere Skizzen den gezeichneten Maler umgaben. Ein Daumen. Eine
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