Flieh solange du kannst
völlig abgelegenen Motel übernachten?
Wer immer dieser Mann war, er hatte bestimmt ein interessantes Schicksal. Ob das auch auf die anderen Gäste in dem Motel zutraf?
Er machte sich gar nicht erst die Mühe, auf den Klingelknopf zu drücken. Stattdessen zog er einfach die Tür mit dem Fliegengitter auf und schlug heftig mit der Faust gegen die Eingangstür. Einen solchen Lärm zu veranstalten, hätte Emma sich niemals getraut.
Es dauerte nicht lange und drinnen ging ein Licht an. Wenig später öffnete eine alte Dame mit weißem Haar die Tür.
“Oh, Preston”, sagte sie, als sie nach draußen spähte. “Ich dachte mir schon, dass du das bist.” Ein Geruch nach Katzen und Menthol drang aus dem Innern des Hauses. “Du bist also zurück, hm?”
Emma ließ die Dose mit dem Selbstverteidigungsspray los. Der Mann war hier Stammgast? Das fand sie so verwunderlich wie die Tatsache, dass ein so hübscher Mensch derart kaputte Kleider am Leib trug.
“Nur für eine Nacht, Maude”, sagte er. “Morgen geht’s dann nach Iowa.”
“Nach Iowa!”, rief die alte Frau. “Du willst doch nicht etwa mit dieser Kiste bis nach Iowa fahren?”
“Mit dieser Kiste fahre ich überall hin.”
“Na, wenigstens hast du jetzt eine Freundin dabei.”
Er drehte sich um und schaute Emma aus hellen Augen an. “Sie gehört nicht zu mir. Ich glaube, sie sucht eine Unterkunft.”
Emma räusperte sich und sagte: “Ja, ich hätte gern ein Zimmer.”
“Aber natürlich, meine Liebe. Lassen Sie mich erstmal den Schlüssel für Preston holen. Du nimmst doch am liebsten das Zimmer ganz am Ende, stimmt’s?”
Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte Maude sich ab und verschwand im Haus. Als sie zurückkam, reichte sie Preston den Zimmerschlüssel und dazu eine durchsichtige Plastiktüte – ganz offensichtlich mit selbstgebackenen Keksen. “Dann geh mal schlafen, mein Junge. Und morgen früh kann ich dir gern ein paar Pfannkuchen backen, falls du möchtest.”
“Danke”, sagte er, ohne ein Wort über die Kekse zu verlieren. Seine Stimme klang so ausdruckslos, dass sie nicht verriet, ob er nun zum Frühstück zu Maude gehen wollte oder nicht.
Preston – wie auch immer er mit Nachnamen hieß – ging davon, und Emma schaute ihm nach. Auch Maude sah ihm hinterher.
“Armer Kerl”, sagte sie. “Soweit ich das sehen kann, hat das Leben ihm wirklich übel mitgespielt.” Sie schob das Haarnetz auf ihrem Kopf zurecht. “Na, wie auch immer. Sie wollen ein Zimmer. Mal sehen, was wir für Sie tun können …”
Weil ihr Sohn im Auto schlief, zog Emma es vor, draußen vor dem Büro zu warten, während die alte Frau die nötigen Formalitäten erledigte. Zehn Minuten später holte sie ihren Koffer aus dem Auto, brachte ihn zum Haus und ging dann zum Wagen zurück, um Max ins Bett zu tragen. Sie war sich nicht sicher, ob es ihr gelingen würde, den Jungen bis ins Motelzimmer zu schleppen, ohne sich eine Muskelzerrung zuzulegen. Aber sie wollte ihn auf keinen Fall aufwecken. Am besten schlief er einfach weiter, dann konnte sie auch noch ein paar Stunden schlafen.
“Liebling, du bist wirklich schwer geworden”, murmelte sie.
“Sind wir jetzt wieder zu Hause?”, murmelte er. Um ihn nicht unnötig aufzuregen, antwortete sie nicht. Was eine gute Entscheidung war, denn kaum dass sein Kopf auf ihre Schulter sank, schlief er auch schon wieder ein.
Nur noch ein paar Schritte, dann hast du es geschafft. Gleich sind wir da … jetzt ist es gut …
Aber da stellte sie fest, dass die Tür zugefallen war.
Mühsam schob sie Max noch ein Stück höher über ihre Schulter und versuchte, die Klinke herunterzudrücken. Abgeschlossen.
Verdammt.
Sie verlagerte ihr Gewicht so, dass es ihr leichter fiel, ihren schweren Sohn zu halten und lehnte sich gegen die Hauswand. Irgendwie musste sie doch den Schlüssel aus ihrer Tasche kriegen!
“Sie haben ein Kind dabei?”
Sie erstarrte. Im Schatten stand Preston. In der Hand hielt er einen Eimer mit Eiswürfeln. Sie hatte ihn gar nicht bemerkt.
“Ja.” Sie erwartete, dass er nach Max’ Alter fragen würde, nach seinem Namen und anderen Details – wie das so üblich war, wenn Leute zufällig miteinander ins Gespräch kamen und ein Kind dabei war –, aber das tat er nicht. Er schaute zu ihnen herüber und die blonden Strähnen, die über seinen Augen lagen, verhinderten, dass sie seinen Gesichtsausdruck erkannte. Schließlich gab er sich einen Ruck und trat zu ihr, um den Schlüssel in Empfang zu
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