Fliehganzleis
vergangenen Jahres eingestanden, dass er sich zu der Frau mit dem ungewöhnlichen Namen hingezogen fühlte. Mehr, als ihm anfangs recht gewesen war. Er hatte ihr beim Renovieren eines Teiles ihres desolaten Hauses südwestlich von München geholfen. Nicht, weil er auf eine erotische Entlohnung aus gewesen wäre. Das passte nicht zu ihm. Er hatte Kea unterstützt, weil er sie mochte und gern mit ihr zusammen war.
Nun blieb es logischerweise nicht aus, dass er sich fragte, ob mehr daraus werden könnte. Aber Kea hielt ihn auf Abstand. Sie hatte ihm das Du noch nicht angeboten, und er war zu altmodisch, um als Erster damit zu kommen. Sie trafen sich ab und zu bei ihm in seiner Schwabinger Wohnung, gingen von dort ins Kino oder in die Oper. Anschließend trennten sich ihre Wege. Kea machten kulturelle Abende großen Spaß, aber sie meldete sich selten von selbst bei ihm. Wenn er sie einlud oder einen Theaterbesuch vorschlug, war sie jedoch schnell dafür zu haben. Ihn zermürbte die Frage, ob sie mit anderen Männern ins Bett schlüpfte. Natürlich ging ihn das nichts an. Kea nahm ab und zu mal einen Mann aus einer Kneipe mit nach Hause. Nur für eine Nacht. Zumindest hatte sie das so gehalten, als Nero sie kennenlernte. Er grübelte, ob sie das immer noch tat. Gerne hätte er Keas üppige, runde Formen für sich gehabt. Er mochte Frauen mit weiblichen Konturen.
Er schlug auf die Schreibtischplatte. Seit Wochen war er seinem Vorgesetzten damit in den Ohren gelegen, durch Bayern reisen zu dürfen, um seine Kollegen in den Präsidien und Polizeidirektionen weiterzubilden. Internetkriminalität war sein Spezialgebiet. Er befasste sich schwerpunktmäßig mit dem Aufdecken von verwischten Spuren im World Wide Web. Aus seinen Erfahrungen bei der Mordkommission in Oberbayern wusste er, dass genau hier die Defizite bei den Kollegen lagen, die an der kriminalistischen Front arbeiteten. Man kannte sich mit Schusswaffen aus und beherrschte nötigenfalls den Jargon der Rechtsmediziner. Aber sobald das Blut im Internet sprudelte, schreckten die Leute von den Bildschirmen zurück. Die meisten fühlten sich von der Technologie überfordert. Endlich hatte das auch sein Chef, Polizeioberrat Woncka, eingesehen. Daraufhin war es eine Sache von Tagen gewesen, bis man Nero zitiert und auf Reisen geschickt hatte. Nun tingelte er durch die bayerischen Regierungsbezirke, um seinen Kollegen vor Ort von seinem Wissen abzugeben. Im Augenblick befand er sich in Würzburg. Im Polizeipräsidium in der Frankfurter Straße hatte man ihm ein winziges, staubiges Büro zugewiesen, in dem er sich auf die Fortbildung vorbereitete, die er am Nachmittag leiten sollte.
Nero las Keas Mail ausführlich, bevor er sie schloss und sich seinen Seminarunterlagen widmete. Er hatte nicht zu hoffen gewagt, dass ihm das Unterrichten so viel Spaß machen würde. Vielleicht lag es an seinem enormen Wissen. Es war am Übersprudeln. Er gab gerne davon ab. Die Kontakte zu den Kollegen vermittelten ihm Kraft. Nach vielen Stunden Unterricht war er zwar ausgelaugt. Aber er fühlte sich auch erfrischt, als hätten die neugierigen, erwartungsfrohen Gesichter der Kursteilnehmer ihm Energie gegeben, das nächste Seminar in Angriff zu nehmen. Dieses Gefühl stimmte ihn zufrieden und zuversichtlich und war nicht zu vergleichen mit der bleiernen Erschöpfung, die sich im Zuge von Ermittlungen auf ihn legte.
Vor seinem seit Jahren ungeputzten Fenster zogen graue Wolken vorbei. Nero war nicht besonders am Wetter interessiert. Gespräche über Regen oder Sonne langweilten ihn. Deshalb beachtete er auch das Gewitter nicht, das gegen 12 Uhr über die Stadt hereinbrach. Bis sein Handy schellte.
»Keller?«
»Hier spricht Kea.«
»Hallo.« Sofort wurde Nero nervös. Es kam selten vor, dass Kea von sich aus anrief. Er freute sich, ihre Stimme zu hören, und sah das schwarze, lange Haar vor sich, die strahlenden dunklen Augen, die ein bisschen zu weit auseinander standen, darüber die schön geschwungenen Brauen. »Wie geht’s?«
»Nicht besonders.« Kurze Stille. »Ich bräuchte mal einen Tipp von Ihnen.«
Neros Stoffwechsel schaltete einen Gang höher. Kea Laverde war keine, die um Hilfe rief. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Er stand auf, um das Fenster zu öffnen, und erschrak über den Donnerschlag, der über Stadt und Fluss hinwegrollte.
»Nicht am Telefon«, tönte Keas Stimme aus dem Handy. »Haben Sie am Wochenende Zeit?«
»Ich bin gerade in Würzburg. Um 15 Uhr halte
Weitere Kostenlose Bücher