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Fliehganzleis

Fliehganzleis

Titel: Fliehganzleis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederike Schmöe
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sie ein paar Wespen verscheuchte: das Mienenspiel ausdrucksstark, fast kauzig, jede ihrer Bewegungen souverän. Die vielen Fältchen in ihrem Gesicht ein Fundament ihrer Schönheit, die auch das sackartige marineblaue Kleid und die ausgetretenen Gartenschuhe aus Gummi nicht verhunzten. Bestimmt hatte sie als Ärztin in ihrer aktiven Zeit Vertrauen und Ruhe ausgestrahlt. Eine Gynäkologin wie sie wünschte sich jede Frau. Wir alle kreisten um den mütterlichen Pol. Ob wir wollten oder nicht.
    Die Gräfin hatte mich als ihre Ghostwriterin engagiert. Seit vier Tagen wohnte ich in dem unterfränkischen Schloss, gute 30 Kilometer von Würzburg entfernt, und führte ein Interview nach dem anderen mit Larissa. Daraus sollte ihre Lebensgeschichte in Buchform werden. Fürs gräfliche Archiv, wie sie mir lachend erklärt hatte. Üblicherweise pflegte ich nicht bei meinen Kunden zu wohnen, und ich achtete darauf, einen gewissen zeitlichen Abstand zwischen den Interviewterminen einzuhalten. So konnte ich selbst mich besinnen und Distanz zu den Lebensgeschichten gewinnen, die man vor mir ausbreitete. Auch die Kunden hatten dadurch Gelegenheit zum Nachdenken. Bei Larissa machte ich es anders. Die Gräfin hatte es eilig mit ihrem Buch, wusste der Himmel, weshalb, aber es schien, als bräche ihre Sehnsucht, die Abenteuer und Traumata ihres Lebens einfach abzuschütteln, stündlich stärker hervor.
    Inzwischen besaß ich einen ganz guten Überblick über das Leben dieser molligen, durch und durch lebensfrohen und tatkräftigen Adeligen. Ich begann bereits damit, einzelne Zeitabschnitte genauer auszuleuchten. Als Ghostwriterin ging es mir nicht darum, so viele Kleinigkeiten wie möglich aufzulesen. Vielmehr suchte ich nach Motiven, um die ich den Stoff eines individuellen Lebens gruppieren konnte. Ich hatte schon Autobiografien für Leute verfasst, bei denen es mir schwerfiel, auch nur ein einziges Motiv herauszustellen. Unter den Auftraggebern einer Ghostwriterin waren überdurchschnittlich viele ehrgeizige Menschen. Solche Leute langweilten nicht nur mich, sondern auch potenzielle Leser. Was sollte ich Spannendes über jemanden schreiben, dessen höchstes Ziel darin bestand, viel Geld zu verdienen oder Vorstandsvorsitzender bei einer Bank zu werden?
    Bei Larissa Gräfin Rothenstayn jedoch stolperte ich in jedem Gespräch über neue, prächtige Motive. Infolgedessen hatte ich auch noch keine Leitlinie festgelegt, die mich von Kapitel zu Kapitel führen konnte. Das Angebot an Aufregendem war einfach zu reichhaltig.
    »Lieben Sie Ihren Beruf?«, fragte die Gräfin unvermittelt. »Ich habe den Eindruck, Sie lieben ihn. Sie haben ja alle Voraussetzungen dafür: Sie sind unnachgiebig. Und Sie gehen sicher nicht den Weg des geringsten Widerstandes.«
    »Ich war früher Reisejournalistin. Dass ich im Ghostwriting gelandet bin, war eher eine unvorhersehbare Kehrtwendung.« Es stimmte nicht ganz, war aber auch nicht gelogen.
    »Es muss unendlich spannend sein, verschiedene Leben auszuleuchten«, sagte Larissa.
    »Ja.«
    Meine nackten Füße kühlten sich an den Terrassenfliesen. Ich legte den Kopf in den Nacken und sog das gleißende Blau des Spätsommerhimmels auf. Hummeln und Wespen summten um uns herum und beanspruchten ihren Anteil am Himbeerkuchen. Die pralle Natur des Parks verlangte die Terrasse zurück: Sonnenblumen, Stockrosen, Astern, Dahlien blühten um uns herum. Sträucher streckten die schweren Zweige nach uns aus. Gerade vier Stühle und ein kleiner Gartentisch fanden noch Platz. Gestern Morgen hatte Larissa der Üppigkeit mit der Heckenschere Einhalt geboten.
    »Das ist ein Paradies«, sagte ich, ohne es gewollt zu haben.
    »Nicht wahr?«, lächelte die Gräfin. Eine kleine Lücke zwischen dem linken Vorderzahn und dem Zahn daneben machte ihr Lachen interessant. »Sie verstehen, warum ich hierher kommen musste? Ich kannte das Schloss doch nur von Bildern! Mein ganzes Leben lang. Und mit 30 hat man ein Lebensalter erreicht, in dem man noch einmal etwas ändern will. Die Knochen strotzen vor Kraft, der Wille auch … «
    Ich trank rasch einen Schluck Eistee, um zu verbergen, dass ich mich unangenehm berührt fühlte. Ich war 39. Also, fast 40. Na gut, in nicht ganz einem halben Jahr. Nach einer XXL-Portion Chaos in den vergangenen gut drei Jahren wähnte ich mich mittlerweile auf dem richtigen Weg für den Ankerplatz des Lebens. Womöglich war ich ein wenig spät dran. In meinem Alter hatte Larissa ihr größtes Abenteuer, die

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