Fliehganzleis
hinausgeschleift haben. Im Vestibül ist Blut auf dem Steinboden.«
»Wie gesagt, ich bin durch die Terrassentür raus«, wiederholte ich. Mein Körper fühlte sich an, als bestünde er aus Mürbeteig.
Kommissarin Gelbach machte einen warmherzigen, freundlichen Eindruck, als sie mich nun eingehend betrachtete. Ihre Gesichtszüge waren weich, mit feinen Fältchen, aber ohne die in viele reifere Gesichter eingegrabene Lustlosigkeit. Ihren wasserblauen Augen entging nichts. Hellwach beobachtete sie jeden meiner Schritte, als ich zur Anrichte ging, die Obstschale nahm und zum Tisch hinübertrug. Das Feuer loderte auf und warf orangefarbene Muster an die Wand.
»Bedienen Sie sich«, sagte ich matt. Ich ging zu dem altmodischen Spülbecken hinüber und wusch mir die Hände.
»Sie haben den Besuch gestern Abend nicht gesehen?« Die Kommissarin nahm sich einen Apfel.
Ich schüttelte den Kopf. Begegnete ihrem Blick in dem trüben Spiegelglas. Die Dame ließ wirklich nicht locker.
»Aber Sie schätzen, dass es ein Mann war?«
»Ich habe die beiden draußen im Gang sprechen hören. Wie gesagt: Ich konnte nicht verstehen, was sie sagten, aber ich habe eine weibliche und eine männliche Stimme gehört. Und da die weibliche der Gräfin gehörte … «
»Könnten zwei Personen gekommen sein?«
Darüber hatte ich noch nicht nachgedacht.
»Eventuell schon. Die Gräfin sagte: ›Ich habe Besuch bekommen, brechen wir für heute ab.‹«
»Sie hatte es eilig, Ihnen Bescheid zu geben und sofort wieder zu ihrem Besuch zurückzugehen?«
Ich nickte. »Theoretisch könnten auch zwei Personen gekommen sein. Ich weiß es nicht.«
»Wie viele Stimmen haben Sie gehört?«
»Zwei. Die der Gräfin. Und die andere.«
»Sind Sie sicher, dass die weibliche Stimme die der Gräfin war?«
Ich zögerte, was die beiden Kriminalisten sofort registrierten.
»Ja. Es war Larissas Stimme.«
Die beiden wechselten einen Blick. Ich wusste selbst, was sie dachten: Manchmal traf unser Gehirn für uns irgendwelche Annahmen, die wir dann gelten ließen, auch wenn sie gar nicht zutrafen. Aber sie erschienen uns so selbstverständlich, dass wir sie nicht infrage stellten.
»Sie haben keinen Wagen gehört?«, fragte Martha Gelbach nach.
Ich schüttelte den Kopf. Das alles klang unglaubwürdig. Ich würde mir selbst diese Geschichte nicht abkaufen, wenn ich nicht genau wüsste, dass sie der Wahrheit entsprach.
»Wohin hat sich die Gräfin mit dem Gast zurückgezogen?«
»In den Grünen Salon. Vorne, gleich die erste Tür rechts von der Eingangshalle kommend.« Das Zimmer, das von meinem am weitesten entfernt ist, fügte ich im Stillen hinzu. Ich brauchte eine Rechtfertigung für meine Taubheit.
»Welche Verwandten sollen wir verständigen?« Gert Rotloh, der Assistent von Martha Gelbach, machte zum ersten Mal den Mund auf. Vielleicht war er auch nicht ihr Assistent, aber einer, der auf der Treppe lauerte, um seine Vorgesetzte im entscheidenden Moment beiseite zu schieben. Entschlossen genug war er. Sein dunkelblondes Haar wich über der Stirn bereits zurück. Die markante Nase warf im Schein des Feuers Schatten auf seine Wangen.
Nun war ich auf sicherem Terrain.
»Es gibt eine Cousine. Milena Rothenstayn. Sie lebt in Hamburg und ist die nächste Verwandte der Gräfin.«
Rotlohs Stift kratzte über das Papier. Er benutzte einen abgekauten grünen Bleistift von Faber-Castell. Ich liebte diese Bleistifte und besaß zu Hause ein ganzes Arsenal davon.
»HB?«, fragte ich ihn.
Er starrte mich an, als sei ich vor seinen Augen ausgetickt.
»Ich benutze auch diese Bleistifte. Stärke HB.«
»Ach so.« Sein verbissenes, schmales Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. »Ich bevorzuge B 2. Die weicheren.«
»Was wissen Sie über Larissa Rothenstayns Bekanntschaften? Steht sie jemandem im Dorf nahe? Wer sind ihre Freunde?«, ging Martha Gelbach dazwischen.
»Ich habe keinen Schimmer«, gab ich zu. »Wir haben darüber nicht gesprochen. Sie denken vielleicht, einem Ghostwriter erzählen die Leute alles, als würden sie einen Rundumschlag machen. Aber wir erfahren meist nur sehr spezifische Dinge. Je nachdem, warum jemand sich überhaupt einen Ghost sucht. Es geht nie um das ganze Leben. Es geht um bestimmte Aspekte der eigenen Biografie.«
Erst jetzt fiel mir auf, dass Larissa in keinem Interview über Freunde gesprochen hatte. Nur ihren Onkel Wolfgang und seine Frau, die Eltern ihrer Cousine Milena, hatte sie kurz erwähnt. Unsere Gespräche waren
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