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Fliehganzleis

Fliehganzleis

Titel: Fliehganzleis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederike Schmöe
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letzte Nacht?«
    »Ich habe keine Ahnung.« Müde schloss ich die Augen, um mir die Situation ins Gedächtnis zu rufen. »Wir saßen hier, im Speiseraum. Die Gräfin hatte ein Feuer angezündet. Wir sprachen über 1973. Das Jahr ihres ersten Fluchtversuchs aus der DDR .« Die Kommissare starrten mich an, keiner machte sich Notizen. Das irritierte mich. Ich kannte die Unzuverlässigkeit meines Gedächtnisses. Berichteten meine Kunden über ihr Leben, brauchte ich neben der Audioaufnahme auch meine Mitschrift, um mich an das zwischen den Zeilen Mitschwingende zu erinnern.
    »Es klingelte«, fuhr ich fort. »Irgendwann zwischen acht und halb neun. Es wurde gerade dunkel. Die Gräfin wunderte sich über den späten Besuch. Sie ging öffnen. Ich hörte Stimmen von draußen, konnte aber nicht verstehen, was gesagt wurde.«
    Plötzlich stand vor meinen Augen der gestrige Abend so deutlich, als säße ich im Kinosessel und blickte auf eine Leinwand.
    »Die Gräfin kam zurück. Allein. Ein wenig nervös. Sie sagte, jemand sei zu Besuch gekommen, es wäre wichtig, und sie würden sich vorne im Grünen Salon unterhalten.«
    »Woran erkannten Sie, dass die Gräfin nervös war?«, wollte die Kommissarin wissen, die sich mit Martha Gelbach vorgestellt hatte. Sie trug das dunkle Haar sehr kurz, in ihren Ohrläppchen steckten winzige Perlen. Ein paar feine weiße Strähnen im Pony gaben ihrer Frisur die besondere Note. Auch ich hatte schwarzes Haar, doch die Alterstönung aus dem Farbtopf von Mutter Natur war mir bisher erspart geblieben.
    »An ihrer Stimme. Ihre Stimme war höher als gewöhnlich.«
    »Was haben Sie dann gemacht? Nachdem Ihr Interview mit Frau Rothenstayn so plötzlich unterbrochen war?«
    »Das ist nicht so unüblich. Bei den meisten meiner Interviews gibt es Störungen. Kinder tun sich weh, weinen, das Telefon klingelt oder Bofrost liefert Hähnchenschenkel. Manchmal vergisst man auch die Zeit, der Kunde muss plötzlich weg, hat einen Zahnarzttermin. Dann heißt es, schnell das Gespräch zu beenden. Ich notiere mir, wo genau wir stehen geblieben sind. Welche Fragen im Raum standen. Solche Dinge sind wichtig, um den Faden beim nächsten Mal wieder aufzunehmen.«
    »Haben Sie das gestern auch getan?«
    »Sicher.«
    »Und danach sind Sie in den Park gegangen?«
    »Ja. Ich mag eine Stelle am Bach, wo der Besitz der Gräfin an Gemeindegebiet stößt. Ungefähr dort, wo ich sie gefunden habe.« Ich schluckte. »Da saß ich eine Weile, bis es stockdunkel war, und drehte dann eine große Runde zur Straße runter.«
    »Wie kamen Sie zurück ins Schloss?«
    »Zu Fuß!«, sagte ich erstaunt.
    »Das meine ich nicht.« Die Kommissarin sah auf ihre Hände. »Durch welche Tür?«
    »Durch die Terrassentür. Ich hatte sie offen gelassen.«
    »Wann genau?«
    Oje, das wurde schwierig.
    »Ich denke mal, ich war eine gute Stunde weg. Ich hörte eine Aufnahme von La Traviata.« Überflüssigerweise fügte ich hinzu: »Die Nacht war so schön. Ich wollte nicht reingehen.«
    »Hätten Sie ein Auto bemerkt, das die Auffahrt hinaufgekommen wäre? Oder eine Person?«
    »Nein. Der Schlosspark ist riesig. Der gräfliche Besitz hat locker zwei, drei Hektar Fläche.«
    »Wo liegt Ihr Zimmer?«
    »Im Erdgeschoss, ganz am Ende des Korridors.«
    »Es könnte sein, dass wir Ihre Aufzeichnungen einsehen möchten. Ich würde Ihnen dann Bescheid geben.«
    Ich hob die Schultern. Sie durften nicht einfach meine Unterlagen konfiszieren. Selbst wenn sie mit einem richterlichen Beschluss anrückten, würden sie nichts finden, was mit einem Überfall oder Mordanschlag zusammenhing. Nichts hatte gestern Abend darauf hingewiesen.
    »Was dagegen, wenn ich den Kamin anschüre?«, fragte ich. Mir war kalt. An Tagen ohne Sonne schienen sich die Schlossmauern von der Körperwärme ihrer Bewohner zu nähren. Martha Gelbach half mir, die kalte Asche von der Feuerstelle zu kehren. Meine Hände hatten alle Feinmotorik verloren. Ich bewegte meine Finger wie zehn kleine Zombies, die an einen stotternden Großcomputer angeschlossen waren. Ich hatte die halbe Nacht Musik gehört, war mit Stöpseln in den Ohren eingeschlafen. Ich Idiotin. Ich hatte nichts hören können.
    »Sagen Sie, Frau Laverde: Die Haustür, war die heute Morgen zugeschlossen?«
    »Ich weiß nicht, ich bin durch die Terrassentür in den Garten.« Ich wies hinter mich.
    »Sie haben die Blutspur also nicht gesehen?«
    »Welche Blutspur?«
    »Jemand muss die Gräfin im Haus zusammengeschlagen und dann

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