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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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sie sich gefreut habe, seine Bekanntschaft zu machen. Sein Besuch sei ein Vergnügen und für Bernhard wirklich wichtig gewesen. Lächelnd küsst sie ihn auf beide Wangen und bewegt sich mit einem jugendlichen Schwung, der ihn an Maria erinnert. Das blaue Sommerkleid passt gut zu ihrer schlanken Statur und den glatten langen Haaren. Im Zurücktreten legt sie die Hand auf eins der gestern aufgestellten Warnschilder: Propriété privée, chasse strictementinterdite! Dann gibt es für niemanden mehr etwas zu tun, außer den Abschied um einige Sekunden hinauszuzögern durch diese oder jene Bemerkung.
    »Du weißt Bescheid, bei Tartas auf die Schnellstraße, dann immer Richtung Bayonne.« Bernhard deutet nach Südwesten. »Grüß deine Tochter, wenn du ankommst. Sie ist natürlich auch eingeladen.«
    »Nochmals danke für alles.« Beim Öffnen der Fahrertür schlägt Hartmut Hitze entgegen, aufgeladen mit dem Geruch von warmem Kunststoff. Er spielt mit dem Schlüssel in der Hand und glaubt, wie immer im letzten Moment, etwas Wichtiges vergessen zu haben.
    »Soll ich mit dem Fahrrad vornewegfahren?«, fragt Bernhard. »Dich aus dem Ort geleiten?«
    »Du fährst Fahrrad?«
    »Ich besitze eins. Letztes Jahr gekauft, als ich plötzlich Angst bekommen habe, einzurosten.« Er zuckt mit den Schultern und schaut zu seiner Freundin, die ein bisschen Deutsch versteht, aber in diesem Fall den Kopf schüttelt.
    »Nicht nötig, mein Navigationsgerät kennt den Weg.« Hartmut steckt den Schlüssel ins Zündschloss und lässt auf beiden Seiten die Fenster runter. Handy, Laptop, Charles Lins Arbeit   – im Geist geht er die letzten fünf Minuten durch und vergewissert sich, dass er alles eingepackt und in den Kofferraum geladen hat. Er ist bereit zur Abfahrt. Eigentlich wollte er längst unterwegs sein.
    »Wir sehen uns.« Mit der linken Hand verscheucht er ein Insekt, bevor er sie winkend aus dem Fenster streckt. Bernhard und Géraldine stehen nebeneinander wie Sandrine und er auf dem Foto aus Hannibal, Missouri: nah und doch nicht nah. Seit er letzte Nacht die Schallplatte angehört hat, geistern die beiden Stimmen durch seinen Kopf und geben ihm das merkwürdige Gefühl, sich selbst zuzuhören über einen Graben von dreißig Jahren hinweg. Von einem Moment auf den anderen freut er sich darauf, den ganzen Tag unterwegs zu sein.
    »Bon voyage«, sagt Géraldine.
    »Grüß Breugmann, wenn du ihn siehst, und sag ihm, ich ...« Der Rest geht unter im Lärm des anspringenden Motors. Gleich darauf stehen zwei schmale Gestalten in Hartmuts Rückspiegel, werden kleiner und erinnern ihn an eine frühere Abreise, er weiß nicht mehr wann und von wo. An der nächsten Kreuzung biegt er ab, passiert eine Reihe unbewohnt aussehender Häuser und fährt aus dem Dorf hinaus. Richtung Spanien.
    Eine Stunde später sind es bis zur Grenze nur noch wenige Kilometer. Bayonne, Biarritz und ein kurzer Tankstopp liegen hinter ihm. Hartmut hat die Karte studiert, Reifendruck und Ölstand kontrolliert und sich davon überzeugt, dass der gelegentlich aufkreischende Keilriemen noch intakt ist. Die Hilfe des Navigationsgeräts benötigt er vorläufig nicht, San Sebastián ist bereits ausgeschildert. Die Landschaft wird hügelig, in der Ferne tauchen wie mit Kreide gezeichnet die ersten Ausläufer der Pyrenäen auf. Ausgeschlafen fühlt er sich, betrachtet die vorbeitreibenden Weinberge und freut sich auf das immer wieder erhebende Gefühl, eine Landesgrenze zu überqueren, die kaum als solche zu erkennen ist. Nachdem er dem französischen Staat zwei Euro zwanzig für die Benutzung seiner Autobahn entrichtet hat, leuchtet über der Straße eine Anzeige auf: Espagne 12 MN. Als wäre Spanien eine Straßenbahn, in die er in zwölf Minuten einsteigen kann.
    Die Aussicht, in zwei Tagen Philippa wiederzusehen, trägt viel zu seiner guten Stimmung bei. Gestern Vormittag hat er ihr endlich geschrieben. Mit dem Laptop auf den Knien saß er im Liegestuhl und hörte von drinnen die dissonanten Laute von Bernhards Geigenspiel. Passend zu den Kopfschmerzen zwischen seinen Schläfen. Ohne sich mit Auskünften zur bisherigen Reiseroute aufzuhalten, hat er seine Tochter gefragt, ob sie beschäftigt sei mit dem Sprachstudium oder Zeit habe, ihren alten Vater durch Santiago zu führen. Kurz entschlossen habe er sich ein paar Tage freigenommen und überlege, sie zu besuchen. Maria werde vermutlich nachkommen. Wenn es ihr nichtpasse, solle sie das sagen, dann freue er sich auf ihren

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