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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Schließlich war vom Dorf nur noch die Spitze des grauen Wasserturms zu sehen. Über den Maisfeldern standen kleine Regenbogen, in der Ferne immer noch schneeweiß geballte Wolken. Als warteten sie auf ihn, seine luftigen Reisebegleiter.
    Fliegen umschwirrten ihre Köpfe, als sie schweigend und verschwitzt zum Haus zurückkehrten. Hartmut setzte sich wieder in den Liegestuhl, öffnete den Laptop und traute seinen Augen nicht, als er im Posteingang die Antwort von Philippa sah. In Rekordzeit, ganze drei Stunden nach seiner eigenen Mail.
    Verwundert klang sie, aber so gründlich er nach versteckten Vorbehalten fahndete, er konnte keine entdecken. Santiago im Sommer sei die reine Wucht, schrieb seine Tochter. Dass es ihm gefallen werde, könne sie nicht garantieren, aber auf jeden Fall wäre es besser, als alleine in Bonn herumzusitzen. Solle sie seine Mail als unverbindliche Anfrage verstehen, oder sei er bereits in den gewiss mehrstufigen Entscheidungsprozess eingetreten? Für den Fall, dass er ihre Ironie ebenso wenig verstand wie sie die seine, folgte ein gelbes Grinsegesicht. Die Anrede bestand aus einem spanisch flotten Hola, die letzte Zeile lautete: Grüß mir den Rhein und pack die Koffer, Flippa.
    »Gute Nachrichten?« Mit einem Glas Wasser in der Hand stand Bernhard in der offenen Terrassentür. Er hatte geduscht und ein frisches Hemd angezogen. Géraldine konnte jeden Moment eintreffen. »Deinem Gesicht nach zu urteilen, ja.«
    »Meine Tochter scheint bereit zu sein, mich in Santiago zu empfangen. Eine Selbstverständlichkeit, könnte man meinen, aber was ist heute noch selbstverständlich.«
    »Komm mit, ich will dich was fragen.«
    »Und das kannst du nicht hier?«
    Ohne zu antworten, drehte sich Bernhard um und ging zurück ins Haus. Die Treppe hinauf. Hartmut stellte seinen Laptop beiseite und folgte ihm.
    Licht kam aus der offenen Tür des Studios. Beim Eintreten fiel Hartmuts Blick auf einen breiten schweren Schreibtisch. Links und rechts stapelte sich Papier, die Bücher in den deckenhohen Regalen waren alphabetisch nach Autoren geordnet, genau wie früher im Bonner Büro. Als würde er ihn in seiner Sprechstunde empfangen, saß Bernhard auf dem Schreibtischstuhl, schob einen dicken Blätterstapel beiseite und sagte: »Es ist immer wieder verwunderlich, wie viele Wörter man braucht, um ganz gewöhnliche Dinge zu sagen. Wenn man genau sein will.«
    Da es keinen zweiten Stuhl gab, blieb Hartmut in der Tür stehen. Draußen fielen Sonnenstrahlen durch die Wolken wie durch ein japanisches Papierfenster. Ein paar Feldhasen hoppelten zwischen den Bäumen umher.
    »Deine Arbeit der letzten Monate?«, fragte er.
    »Es gibt noch mehr. Ich bin dabei, mich umzugewöhnen, das braucht Zeit. Man schreibt anders, wenn man sich an niemanden richtet.« Bernhard nahm ein paar Blätter in die Hand, als wollte er sie wiegen, und legte sie wieder zurück. »Manchmal denke ich, dass ich ganz neu schreiben lernen müsste.«
    Gegen den Türrahmen gelehnt, fühlte Hartmut sich in die Position von Peter Karow versetzt, letzte Woche im Verlag. Mit verschränkten Armen musterte er den Mann auf dem Stuhl und war nicht sicher, was in dessen Kopf vor sich ging. Das Zimmer berührte ihn seltsam. Aufgeräumt, vorzeigbar und gleichsam startbereit, aber der Blick aus dem Fenster ging auf nichts als Pinien und offene Felder. Nur dann ein guter Ort zum Arbeiten, wenn man seine Aufgabe genau kannte. Von einem Foto über dem Schreibtisch lächelte ihn eine Frau mittleren Alters an. Ihr freundliches ovales Gesicht wurde umrahmt von braunen Haaren. Sonnenstrahlen machten die Ränder unscharf, im Hintergrund verschwamm das Meer.
    Bernhard folgte seinem Blick und nickte.
    »Wir haben uns kennengelernt, als sie Freunde besuchte, die in Mimizan ein Haus besitzen. Zu viert sind sie eines Abends in die Bar gekommen und wollten Wein kaufen. Einen ihrer Freunde kannte ich flüchtig. Der meinte hinterher, er habe es darauf angelegt, uns zusammenzubringen.«
    »Zwei Kinder, die schon studieren, hast du gestern gesagt. Dafür sieht sie ziemlich jung aus.«
    »Beim ersten war sie zwanzig. Jetzt sind beide aus dem Haus, und Géraldine ist immer noch jung genug, was Neues anzufangen. Beinahe wie in deinem Witz. Als Lehrerin will sie nicht mehr lange arbeiten. Das möbliert ihr Leben nicht, wie man auf Französisch sagt. Treffendes Bild – das Problem ist immer, wie man’s einrichtet.«
    »Sie kündigt in der Schule, du verkaufst die Bar. Klingt doch

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