Fliehkräfte (German Edition)
gut.«
»Und dann was? Manchmal spinnen wir rum und kommen auf die verrücktesten Sachen, einen Weinberg kaufen, in die nächste Stadt ziehen und mit Antiquitäten handeln. Ein alter Traum von ihr. Oder erst mal ein Jahr reisen, um herauszufinden, wie gut wir zusammenpassen.« Er machte eine Handbewegung, die so viel besagte wie: Setz die Reihe selbst fort. »Wie sagt man so schön? Die Welt steht uns offen.«
»Bloß, dass du gerade nicht weg willst von hier.«
»Merkt man das?« Bernhard lächelte, als hätte er sich selbst bei einem Widerspruch ertappt. »Ich hänge nicht so sehr an dem Haus, dass ich es nicht wieder verkaufen könnte. Als Hausbesitzer hab ich mich sowieso nie gesehen. Es hat bloß lange gedauert, bis ich mich eingerichtet habe in meinem post-akademischen Dasein. Wir sind derart korrumpiert durch Lohnarbeit, dass wir Tätigkeiten, die finanziell nichts einbringen, auch nicht ernst nehmen. Ich hab regelrecht trainieren müssen, mich an den Schreibtisch zu setzen ohne das Gefühl, ich würde nurposieren. Dann kam die Sache in Bordeaux, das hat auch nicht geholfen.«
»Ich bleibe dabei. Du hättest nicht weggehen sollen aus Bonn.«
Eine Meinung, die Bernhard mit einem knappen Kopfschütteln zurückwies.
»Junge Leute fit machen für den Arbeitsmarkt, ohne mich. Es war richtig zu gehen. Im Übrigen bin ich mit meiner Emanzipation ein gutes Stück vorangekommen. Ich arbeite wieder, und es macht mir Freude. Vom Sommer abgesehen, tue ich, was ich für wichtig halte. Lese, was mich interessiert, ohne zu fragen, wofür ich es brauche. Kierkegaard – je angeguckt?«
»Irgendwann ein paar Seiten. Nicht mein Gebiet.«
»Eben. Ich lese alles außer Sekundärliteratur. In Bonn hatte ich für fast nichts anderes Zeit, und neunzig Prozent waren belanglos.«
»Okay. Aber jetzt will deine Freundin dich rausreißen aus deinem neu erworbenen Gleichgewicht. Deinem Dasein als Privatgelehrter.«
»Für mehr als zwanzig Jahre hat sich ihr Leben um die Kinder und den Job gedreht. Jetzt kommt ihre Zeit. Wir sind uns wie an einer Haltestelle begegnet, bloß dass ich angekommen bin und sie aufbrechen möchte. Sie sagt, sie kann sich eine Zukunft mit mir vorstellen. Aber nicht hier, nicht so wie jetzt. Und natürlich weiß sie, wo mein wunder Punkt liegt: Es ist okay, die Karriere an der Uni aufzugeben, wenn die Bedingungen einem nicht zusagen. Aber eine Bar aufmachen?« Ein Lächeln zwischen Selbstironie und Bitterkeit huschte über sein Gesicht. »Also muss ich entweder mitgehen oder alleine zurückbleiben. Nach reiflicher Überlegung ist mir klar geworden, dass ich Letzteres nicht will. Fürs Erste reicht das. Alles andere wird sich zeigen.«
Im selben Moment näherte sich draußen ein Auto, hielt neben dem Haus und hupte kurz. Bernhard stand auf.
»Das ist sie.«
»Hast du nicht gesagt, du wolltest mich was fragen?«
»Wir überlegen zu heiraten. Würdest du mein Trauzeuge sein?«
Weil Hartmut sich nicht bewegt hatte, standen sie einander auf weniger als einer Armlänge gegenüber. Musterten sich gegenseitig, und Hartmut kam es vor, als würden sie von der lächelnden Frau auf dem Foto beobachtet.
»Das kommt überraschend. Alles andere wird sich zeigen, hast du ...«
»Keine Ahnung, wie du dich zur Ehe entschlossen hast. Ich glaube, manche Schritte machen wir entweder spontan, oder wir verausgaben uns beim Nachdenken über die Frage, ob wir es wirklich wagen sollen. Wenn du’s nicht glaubst, wirf einen Blick in den Spiegel. Du fährst bis Südfrankreich, und wer weiß, wie weit du noch fahren wirst, um dich zwischen Bonn und Berlin zu entscheiden.«
»Als ob es nur um den Ort ginge.«
»Bevor ich in Bonn hingeschmissen habe, war ich ein halbes Jahr wie gelähmt, weil ich mich nicht entschließen konnte, es zu tun. Ein verlorenes halbes Jahr.«
»Gefolgt von zwei Jahren, in denen du dich gefragt hast, ob es der richtige Entschluss war.«
»Aber die waren ein Fortschritt, versteh das endlich!« In einer untypischen Geste boxte Bernhard ihm mit der Faust gegen die Brust. »Manchmal ist es sogar besser, den falschen Schritt zu tun, statt grübelnd auf der Stelle zu treten.«
»Küchenphilosophie. Ist es wegen der Geschichte in Bordeaux? Hast du Angst, dass ...«
»Sei mein Trauzeuge! Irgendwann im nächsten Jahr, im kleinen Kreis. Schon bevor du hier aufgekreuzt bist, hatte ich beschlossen, dich darum zu bitten. Es wäre der Anlass gewesen, endlich die Funkstille zwischen uns zu
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