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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Besuch in Bonn. Bevor er die Mail abschickte, überflog er den Text und prüfte den Ton. Klangen die Zeilen weder aufdringlich noch zu beiläufig, sondern nach der Anteilnahme eines geduldig aus der Ferne liebenden Vaters? Seit zwei Jahren versucht er sich selbst an der kurzen Leine zu halten, wenn er Kontakt mit Philippa aufnimmt. Mit dem Umzug nach Hamburg hat seine Tochter begonnen, die Beziehung zu ihren Eltern neu zu ordnen, in Marias Fall zum Besseren, aber dass sie von sich aus in Bonn anruft, ist selten geworden. Meldet er sich bei ihr, kämpft er mit dem Gefühl, sich ungebeten in ihr Leben einzumischen. Es gibt viel, das er gerne fragen würde, aber immer weniger, worüber sie reden. Oder bildet er sich das ein? Entgleitet seine Tochter ihm oder leidet er am typischen Phantomschmerz des Vaters, dessen Rolle auf eine Art Bereitschaftsdienst reduziert wurde?
    ›Alles Liebe, dein Papa‹ schrieb er und klickte sofort auf Senden.
    Bevor sie ihn auf das Territorium des südlichen Nachbarn entlässt, fordert die Republik Frankreich einen letzten Wegezoll von ihm. Hartmut wirft die Münzen in einen großen Plastiktrichter, dann hebt sich der Schlagbaum, und auf einem Schild steht ›Espanha‹. Das ist alles. Keine Uniformen und strengen Blicke, weder hechelnde Hunde noch griffbereite Schnellfeuerwaffen. Im Hinterkopf begleiten ihn Erinnerungen an das eine Mal, als er in Helmstedt das komplette Programm absolvieren musste: Radkappen abmontieren und sämtliche Wäschestücke einzeln auspacken, während seine sächselnden Peiniger danebenstanden und ausschließlich in Imperativen mit ihm sprachen. Jetzt rollt er unbehelligt von Frankreich nach Spanien und befindet sich im selben Land wie seine Tochter. Seit Ostern hat er sie nicht gesehen, und auch da nur für zwei Tage. Die Hinweise am Straßenrand werden zweisprachig, Rasthof heißt ab sofort ›área de servicio‹ und auf Baskisch ›zerbitzugunea‹.
    San Sebastián ist ihm von seiner ersten Portugalfahrt mit Maria in Erinnerung geblieben. Eine schöne Stadt. Mitten im Zentrum der helle Halbmond des Strandes, dahinter eine prächtige Promenade voller Flaneure, die in alle Richtungen flohen, als ein gewaltiger Platzregen niederging. Diesmal sieht Hartmut nur die grauen Mietskasernen der Außenbezirke, dann biegt er ab auf die A8 Richtung Bilbao. Ein gesprühter Slogan auf einem Brückenpfeiler fordert Freiheit für das Baskenland. Zwei Reisetage hat er eingeplant, mit einem Zwischenstopp an der Costa Verde. Damals sind Maria und er einer ähnlichen Route gefolgt, zunächst am Atlantik entlang und dann über die sonnenverbrannten Hochebenen Kastiliens nach Portugal. Es ist Jahrzehnte her, seit er zuletzt unterwegs war, ohne den Ort seiner nächsten Übernachtung zu kennen. Der Himmel hält sich bedeckt, graue Nebelschleier verleihen den Bergen das Aussehen rauchender Vulkane. Hartmut legt eine neue CD ein, denkt an die vergangenen zwei Tage und genießt das gute Gefühl, einen Freund gewonnen oder jedenfalls vermieden zu haben, ihn zu verlieren.
    Den größten Teil des gestrigen Vormittags hat er allein auf der Terrasse verbracht. Mit hinter dem Kopf verschränkten Händen und gen Himmel gerichtetem Blick. Drinnen hatte Bernhard seine Geige beiseitegelegt und rumorte in der Küche. Géraldine wollte am Nachmittag eintreffen. Stickig und heiß lag die Luft über der flachen Landschaft. Einmal fuhren Kinder auf ihren Fahrrädern am Grundstück vorbei, ansonsten waren nur Vögel zu hören, Insekten und die tickenden Bewässerungsanlagen in den nahen Maisfeldern.
    Nichtstun hat beinahe den Reiz des Verbotenen. Für den Fall, dass er mehrere Tage auf Philippas Antwort warten musste, beschloss Hartmut, wie geplant aufzubrechen und es seinerseits langsam angehen zu lassen. Die Entfernung nach Bonn war ungefähr die gleiche wie nach Lissabon, und er konnte Maria ebenso gut dort bei ihrem Bruder treffen. Jetzt zurückzufahren kam nicht in Frage. Mit dieser Reise verbanden sich Hoffnungen und Erwartungen, die er nicht ausbuchstabieren musste, um zu wissen, dass sie sich noch nicht erfüllt hatten.
    Im Dorfgasthof nahmen sie ein spätes Mittagessen zu sich. Wurden von der Bedienung freundlich behandelt und von einer Gruppe alter Männer mit scheelen Blicken bedacht. Der anschließende Spaziergang führte sie unter Pinien entlang über sandigen Heideboden. Weit mussten sie laufen, um den garstigen Kötern zu entkommen, die ihnen aus jedem Grundstück hinterherbellten.

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