Fliehkräfte (German Edition)
über den zu dünn besetzten Sopran im Kirchenchor und was für eine Welt das ist. Die eigenen Kinder! Als sie fünf Minuten später am Rehsteig halten, greift sein Vater nach dem Gurt und sagt: »Fohr net so dichte on’n Boddstäh droh, sussd komm äich net so gudd raus.«
Dann feiern sie Weihnachten, alle zusammen. Es gibt eine zweite Bescherung, mit den üblichen Umarmungen und dem abwehrenden Dank. Seine Mutter protestiert, dass der Bademantel viel zu teuer für sie sei. Sein Vater hält einen großformatigen Bildband auf Leseabstand und behauptet, sich für Polarexpeditionen schon immer interessiert zu haben. Die Kerzen brennen, Heiner sammelt Geschenkpapier in einen ausgedienten Karton, und die Zwillinge spielen mit ihren ferngesteuerten Autos. Als Hartmut seinem schlechten Gewissen in die Küche folgt, findet er Ruth beschäftigt damit, die Fonduesaucen in kleine Schälchen zu füllen. Auf Tellern türmen sich Würfel von Rind- und Schweinefleisch. Eine Pyramide aus kleinen Hackbällchen ist für die Gebissträger der Familie gedacht. Eingelegte Gurken, Silberzwiebeln und rote Bete liegen zum Abtropfen im Sieb, dazu gibt es Kräuterbutter, frisches Baguette und grünen Salat. Der Geruch von Brennspiritus wabert durch den Raum. Hartmut bleibt in der Schiebetür stehen. Eins der Schälchen hat eine abgeplatzte Stelle und muss ausgetauscht werden. Ruth schaut nur kurz von ihrer Arbeit auf.
»Sag lieber nichts.«
»Kann ich dir helfen?«
»Nicht hier.« Mit einer Hand zieht sie ihn in die Küche und schiebt mit der anderen die Tür zu. Eigentlich würde sie jetzt ein verschwörerisches Lächeln aufsetzen, aber das lässt die Stimmung zwischen ihnen nicht zu. Er hat sich sofort für seinen Ausfall entschuldigt, und seine Schwester hat es akzeptiert, alles andere wird Zeit brauchen. »Versuch, deine Neffen für diese Märklin-Kästen zu begeistern. Unser Vater schenkt ihnen die immer wieder, er lässt sich nicht davon abbringen.«
»Weil es gutes Spielzeug ist.«
»Es ist wunderbares, hochwertiges Spielzeug, aber meine Söhne stehen gerade auf alles, was Batterien hat und Lärm macht. Ich hab ihm das zu erklären versucht. Du weißt, wie er ist.«
»Nein. Wie ist er?«
»Hartmut«, sagt sie, »sei heute bitte kein Scheusal! In drei Tagen wandert das Zeug auf den Speicher, aber heute Abend, solange unser Vater hier ist, will ich, dass die beiden damit spielen. Was sie auch tun werden, wenn ihr geliebter Onkel mit ihnen spielt. Okay?«
»Ist es eigentlich schwierig, es allen Leuten recht zu machen? Ich meine: allen gleichzeitig?« Er meint das weniger ironisch, als es klingt.
»Das kommt auf den Grad der Unterstützung an, den man dabei erfährt.«
Er nimmt ein Gurkenstück, dippt es in eine der vier Fonduesaucen und steckt es sich in den Mund. Aus dem Wohnzimmer kommt ein doppeltes Juchzen. Florian und Felix lassen ihre Elektroautos gegen jedes erreichbare Hindernis knallen.
»Weil wir gestern davon gesprochen haben«, sagt er kauend. »Hast du ihm je zum Vorwurf gemacht, dass du kein Abitur machen durftest?«
»Nein, wozu?«
»Damit er’s weiß.«
»Und es beim nächsten Mal besser macht?« Sie stellt das letzte Schälchen ab, tritt einen Schritt zurück und lehnt sich gegendie Spüle. Hat sich geschminkt, zur Feier des Tages, und trägt unter ihrer Küchenschürze eine weiße Bluse.
»Du meinst«, sagt er, »du hast es ihm einfach verziehen.«
»Ich hab mir gesagt, manche Dinge sind, wie sie sind. Er hat sich fünfzig Jahre lang den Rücken krumm gearbeitet, und meine Kräfte sind ebenfalls begrenzt. Ich erziehe lieber meine Kinder als meine Eltern.«
»Irgendwie bewundere ich dich.«
»Irgendwie bewundere ich dich auch. Jetzt geh und spiel mit deinen Neffen. In zwanzig Minuten gibt’s Essen.«
»Ich bemühe mich, weißt du. Manchmal glaube ich, es gelingt mir. Und manchmal schaue ich ihn an und ... Bemerkst du keine Fortschritte?«
»Man sieht, dass du dir Mühe gibst.« Bevor er das nächste Stück nehmen kann, hebt sie drohend die Hand, aber ihre Stimme bleibt ruhig. »Und manchmal sieht man, wie du ihn anschaust.«
»Früher hast du dir immer die Augen zugehalten. Wenn es mal wieder so weit war. Wenn ich angeblich was verbrochen hatte.«
Das heiße Öl in den beiden Fonduetöpfen gibt ein leises Knacken von sich. Ruths Blick ruht auf ihm, und ihn überkommt ein tröstliches Wissen darum, wie lange sie einander kennen. Wie unauflöslich das ist und alles Verstehen ebenso umfasst wie die
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