Fliehkräfte (German Edition)
ausging. Sie hatten zusammen gefrühstückt, dann war er nach oben gegangen, um ein paar Mails zu schreiben. Als das Telefon klingelte, versuchte er zuerst, es zu ignorieren, in der Hoffnung, dass unten jemand drangehen würde, aber schließlich nahm er selbst ab.
Ruth. Obwohl der veränderte Klang ihrer Stimme ihm sofort auffiel, brauchte er ein paar Sekunden, um seine Aufmerksamkeit von dem Text auf dem Bildschirm abzuwenden.
»Bist du allein?«, fragte sie. Samstagvormittag war nicht ihre Zeit.
»Ich bin im Arbeitszimmer. Was gibt’s?«
Manche Nachrichten sind so beschaffen, dass sie bereits in der Sekunde, bevor sie ausgesprochen werden, beim Empfänger eintreffen. In jener kurzen Pause, die plötzlich nur einen Schluss zulässt. Im Rückblick glaubt er sogar, über das merkwürdigePhänomen nachgedacht zu haben, alles in dieser einen Sekunde. Je schwerer zu glauben die Nachricht, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass sie gar nicht ausgesprochen werden muss.
Mein Vater ist gestorben, dachte er.
»Unser Vater ist letzte Nacht gestorben«, sagte Ruth.
Langsam lehnte er sich im Schreibtischstuhl zurück. Aus Philippas Zimmer kamen die aufgeregten Stimmen eines Hörspiels. Was er zuerst spürte, war die betäubende Wirkung des Schocks. Den Blick aus seinem Arbeitszimmer hatte er schon immer gemocht, über Baumspitzen und das Klinikgelände hinweg, endend und doch nicht endend in der farblosen Leere über dem Rheintal.
»Woran?«, fragte er.
»Sein Herz hat einfach aufgehört zu schlagen. Mutter ist gegen sechs aufgewacht und ...« Jetzt erst merkte er, dass seine Schwester um Fassung rang. »Es war alles wie immer. Dann fiel ihr auf, dass sie ihn nicht atmen hörte.«
Alles wie immer. Mechanisch streckte er die Hand aus und klickte die zuletzt gelesene Mail weg. Wie unheimlich es wirkt, wenn zur Normalität nur eine Winzigkeit fehlt. Der Tod als Mangel an Geräusch.
»Wie geht’s ihr?«, fragte er. »Mutter.«
»Sie ist ruhig, du kennst sie. Sie fragt, wann du kommst.«
»Wie geht’s dir?« Er hatte das Gefühl, dass Maria in seiner Nähe stand, obwohl er sie im selben Moment unten im Flur hörte. Kürzlich erst hatten sie über die von Krieg und Diktatur geprägte Generation ihrer Eltern gesprochen, für die Entbehrungen so selbstverständlich waren wie für die Kinder der Anspruch auf Glück. Schwer zu erklären, meinte Maria, warum wir von ihnen nicht stärker beeindruckt sind.
»Kannst du sofort kommen?«, fragte Ruth, ohne seine Frage zu beantworten.
»Natürlich.«
Vielleicht bleibt er im Auto sitzen, weil es ihn an die Fahrt vom letzten Samstag erinnert, und weil die Erinnerung guttut.An einem bewölkten Tag zwischen den Jahreszeiten fuhr er nach Hause, um sich in einer ungewohnten Rolle zu bewähren. Wenig Verkehr auf der Sauerlandlinie. Philippa war auf der Stelle in Tränen ausgebrochen, also hatten Maria und er vereinbart, dass er zunächst alleine fahren solle. Bis Dillenburg auf der Autobahn, dann über die bekannten Dörfer. In der Küche in Arnau saßen alte Leute, die schon unzählige Tode erlebt hatten und in deren Kreis er sich wie ein Anfänger vorkam. Eine Totenwache gab es nicht, der Leichnam war bereits abgeholt worden. Hartmut führte Telefonate mit Cousins, denen er sich mit vollem Namen vorstellen musste, bevor sie ihn erkannten. Immer die gleichen Floskeln: Wenn man schon sterben muss, dann so. Irgendwann erwischt es uns alle. Er hat sein Leben gelebt. Die Hilflosigkeit von Worten fiel ihm auf, und die Wortlosigkeit dessen, was wirklich half. Eine Umarmung im Flur, die Gefasstheit seiner Mutter. Ruths stilles, von ihr selbst unbemerktes Lächeln.
Jetzt reißt ihn eine Bewegung in der Haustür aus seinen Gedanken. Als er aufblickt, steht Maria gegen den Türrahmen gelehnt und sieht ihn mit verschränkten Armen an. Ihr amüsierter Gesichtsausdruck lässt darauf schließen, dass sie schon längere Zeit dort steht und ihn beobachtet.
Er fährt das Seitenfenster runter und legt einen Ellbogen in den Rahmen. Die Luft auf dem Venusberg riecht nach Laub und reifen Pflaumen.
»Guten Abend.«
»Guten Abend«, sagt sie. »Kommst du alleine raus aus dem Auto oder soll ich die Feuerwehr rufen?«
»Bin sofort da. Wollte bloß noch einen Moment an nichts Bestimmtes denken.«
»Lass dir Zeit.« Zögerlich macht sie einen Schritt aus der Tür und blickt zur Straße. Sie trägt einen schwarzen Rollkragenpullover, den er noch nie an ihr gesehen hat. Passt gut zu den neuerdings
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