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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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erst im Rückblick bemerkt er, dass er ihn trotz allem genossen hat. Was bleibt, ist ein schlechtes Gewissen und die Hoffnung, dass Maria seine Lust auf ein Glas Wein teilen wird. Unbedingt muss er daran denken, sie nach dem Unterricht zu fragen. Schweigend durchqueren Philippa und er das Stockentor und betreten die Tiefgarage.
    Weil an der Nordunterführung gebaut wird, nimmt er die Adenauerallee und schlägt vor, unterwegs eine Kleinigkeit zu essen. Mit Sorge beobachten Maria und er, wie dünn ihre Tochter geworden ist und mit welcher Gründlichkeit sie neuerdings die Inhaltsangaben von Lebensmitteln studiert. Leuchtende Warnsignale für Anorexie. Jetzt will sie lieber nach Hause.
    Vor einer roten Ampel spürt er ihren forschenden Blick. Als falle ihr wieder ein, was auch er vergessen hatte: dass der Kinobesuch einen therapeutischen Zweck erfüllen sollte. Den ganzen Tag und die ganze Woche hat ihn das Wissen begleitet wie ein unauffälliger Beschatter. Mal zeigt er sich, mal bleibt er verborgen, diskret und aufdringlich zugleich. An seinen Vater zu denken ist so ungewohnt für ihn, dass er es zwischendurch einfach vergisst.
    »Bist du sehr traurig?« Philippa dreht an ihrem Armreif.
    Die Ampel schaltet um, und Hartmut legt den ersten Gang ein. Der WDR-Sendemast blinkt in der Dunkelheit. Es gefällt ihm, dass sie auf einem Berg wohnen und er seinen Arbeitstag mit einer Fahrt nach oben beschließen kann. Eine gleichzeitig kindgerechte und ehrliche Antwort auf ihre Frage fällt ihm nicht ein.
    »Es fühlt sich an, als wäre ich auf dem Weg dorthin. Als wäre die Trauer irgendwo und ich käme nicht ran. Jedenfalls noch nicht.«
    »Du hast nicht geweint auf der Beerdigung.«
    Er wendet den Kopf, aber jetzt blickt seine Tochter geradeaus. Obwohl noch nicht zwölf, sitzt sie neuerdings vorne, und Hartmut muss sich daran gewöhnen, ihr Gesicht nicht im Rückspiegel zu sehen, sondern neben sich.
    »Es ist merkwürdig, weißt du, wie man überrascht werden kann von etwas, das unausweichlich war. Nicht nur, weil esohne Vorankündigung passiert ist. Ich meine, überhaupt. Ich hab mich nie mit der Möglichkeit beschäftigt. Vielleicht weil es das erste Mal war, dass ein Mensch gestorben ist, der mir nahestand.«
    »Ruth hat geweint.«
    »Ruth ist eben ... Ruth. Menschen unterscheiden sich in vielen Dingen, auch Geschwister. Deine Mutter und João sind so unterschiedlich, wie zwei Menschen nur sein können. Verglichen damit ...«
    »Eben«, sagt sie mit Nachdruck. »Verglichen damit seid ihr wie Zwillinge.«
    »Offen gestanden, kann ich mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal geweint habe. Ich weiß nicht warum.«
    Darauf erwidert Philippa nichts, wiegt nur den Kopf und beginnt, in ihren Jackentaschen nach etwas zu suchen.
    Vor vier Tagen hat er vor dem offenen Grab gestanden und glauben wollen, dass von nun an alles eine andere Grundierung bekommen werde. »Unser Leben währet siebzig Jahre«, sagte der Pfarrer mit den müden Augen, »und wenn es hoch kommt, so sind es achtzig Jahre, und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen.« Die Quintessenz jenes asketischen Protestantismus, den Wilhelm Hainbach bis ins siebenundsiebzigste Jahr gelebt hat und auf seinem Grabstein verewigt wissen wollte. Für ihn scheint das Ende weniger unerwartet gekommen zu sein als für die Familie. Sogar eine Liste der Lieder, die bei der Beerdigung gesungen werden sollten, hatte er zusammengestellt und zu den wichtigen Dokumenten gelegt. O Haupt voll Blut und Wunden und andere Zeugnisse des Dreißigjährigen Krieges. Später im Bonhoeffer-Haus ist so oft das Wort vom ›schönen Tod‹ gefallen, dass selbst Ruth meinte, sie könne den Ausdruck nicht mehr hören.
    »Das dürfte ein Gefühl sein, das du nicht kennst«, entgegnet er dem skeptischen Schweigen seiner Tochter. »Weinen zu wollen, aber nicht zu können.«
    »Ich kenne das Umgekehrte.«
    »Wahrscheinlich fühlt sich beides gleich schlecht an.« Damit biegt er links ab und fährt im Schritttempo auf ihr Haus zu. Auf einmal kommt ihm die Atmosphäre draußen herbstlich vor. Er stellt den Motor ab, löst mit einem entschlossenen Nicken den Gurt und sieht seine Tochter an. »Hey, das war eine richtig schöne Unternehmung. Sollten wir häufiger machen.«
    Philippa schnallt sich ebenfalls ab und sieht merkwürdig klein aus auf dem Beifahrersitz.
    »Es ist nicht der richtige Zeitpunkt für einen Witz, oder?«
    »Einen Witz?«
    »Ich hab einen neuen. Ruth fand ihn

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