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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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kürzeren Haaren.
    »Es wird kühler«, sagt er und denkt, dass der Tod seines Vaters in Wahrheit nichts geändert hat. Das ist es, womit er sich abfinden muss.
    »Ja.« Maria nickt. »Obwohl wir in Deutschland leben.«
    »Wie war dein Unterricht? Sind die Damen so unbegabt wie ich?«
    »Ich hab ein paar echte Talente.« In Hausschuhen macht sie drei schnelle Schritte zum Auto, beugt sich herab und küsst ihn durchs offene Fenster. Sie hat sich die Zähne geputzt, damit er nichts riecht. Bevor er antworten kann, verschwindet sie wieder im Haus. Die Tür bleibt offen stehen und gibt den Blick frei auf das übliche Chaos im Vorflur. Schuhe und Jacken. Warmes Licht. Hartmut greift nach seiner Tasche auf der Rückbank und vergewissert sich, dass der Brief darin steckt. Gleich morgen wird er Stan antworten. Dann steigt er aus, schließt die Tür ab und spürt die Nähe einer in den Tresor gesperrten Angst. Beinahe eine Lockung, ähnlich der, die Menschen dazu treibt, eines Tages ins Auto zu steigen und fortzufahren. Raus aus ihrem geheimnislosen Leben.
    Aus dem Nachbarhaus kommt leise Musik. Laternenlicht fällt auf die Straße, und das Kopfsteinpflaster glänzt, als hätte es kürzlich geregnet.

12 Anderthalb Stunden sind sie der Autopista del Atlántico nach Süden gefolgt, aber das Meer haben sie nur ein Mal gesehen. Auf der Höhe von Pontevedra, als sie über eine große Brücke fuhren, lagen links Segelboote im Hafen, und rechts öffnete sich der Ausblick auf endloses Wasser. Seitdem bietet die Landschaft kaum Anlässe, um das Schweigen im Auto zu brechen. Je näher sie der Grenze kommen, desto heißer wird es. Philippa hat den Beifahrersitz nach hinten geschoben und die Lehne gekippt und stützt ihre nackten Füße gegen das Handschuhfach. Das Steuer übernehmen will sie nicht. Nach drei gemeinsamen Tagen hat sich die Wiedersehensfreude gelegt, und was an ihre Stelle getreten ist, wüsste Hartmut nicht zu sagen. Irgendwie gar nichts, scheint ihm.
    Eine langgezogene Brücke führt über den Rio Minho. Auf der anderen Seite heißt sie ein Schild willkommen. Jede Ankunft in Portugal fühlt sich wie eine Heimkehr an. Die hochstehende Sonne brennt auf Hartmuts Oberschenkel, sein Blick streift kleine Baumgruppen, die nicht dicht genug sind, um sie Wälder zu nennen, und über allem wölbt sich das Azurblau des portugiesischen Himmels. Entschlossen wendet er den Kopf nach rechts.
    »Hey! Bem-vinda a Portugal!« Insgesamt dürfte er zwei volle Jahre in Lissabon, Rapa und verschiedenen Küstenorten zugebracht und in dieser Zeit mehr Sonnenlicht abbekommenhaben als in seinem gesamten restlichen Leben. Seine Tochter antwortet lediglich mit einem knappen Nicken.
    »Nenn mir drei Dinge«, sagt er unverdrossen, »die dir spontan zu Portugal einfallen. Substantive oder Adjektive, ganz egal, aber ohne lange nachzudenken.«
    »Du zuerst.«
    »Sommer, Rapa, grüner Wein.«
    »Avó Lu, Avô und João.« Philippa schaut aus dem Seitenfenster, das Mobiltelefon hält sie in der Hand. Den jüngsten Meldungen zufolge hat das EKG den Verdacht auf Herzinfarkt bei Artur zwar nicht bestätigt, aber seine Blutwerte sind auffällig. Weder Notfall noch Entwarnung, so lautet die Zusammenfassung, die Hartmut vor der Abfahrt auf Marias Mailbox gesprochen hat. Der alte Mann soll für einige Tage im Krankenhaus bleiben. Lurdes ist derweil alleine in Rapa und verbringt mehr Zeit in der Kirche als zu Hause. Man erreicht sie nur abends.
    »Du machst es einem auch nicht leicht, weißt du.« Hartmut versucht seiner Tochter einen vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen. »Dinge, hab ich gesagt.«
    »Ich muss aufs Klo.«
    »Jawohl. Du musst aufs Klo, und dein gehorsamer Fahrer beeilt sich. Sogar das Tempolimit werde ich für dich missachten.«
    Kurz nach vier Uhr zeigt die Anzeige am Armaturenbrett, aber nach portugiesischer Zeit ist es eine Stunde früher. Auf der Straße herrscht wenig Verkehr, und wenn Hartmut in den Rückspiegel blickt, begegnet er einer verfremdeten Version seiner selbst. Als er heute Morgen im Bad stand, den Rasierer kurz in die Hand genommen und wieder beiseitegelegt hat, fiel ihm der Turiner Kollege ein, der auf der letzten Summer School einen Gastvortrag gehalten hatte. In geschliffenem, beinahe aristokratischem Englisch und mit einem sorgfältig ungepflegt aussehenden Dreitagebart, der auf Hartmut größeren Eindruck machte als Professor Mancinis Ausführungen. Dass Philippa spöttisch fragen würde, wen er mit seinem neuen Look

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