Fliehkräfte (German Edition)
beeindrucken wolle, war vorauszusehen. Ihm gefällt die Veränderung.
Gleich nach dem ausgiebigen Frühstück hat er das Hotel verlassen und den Rest des Vormittags in der Altstadt verbracht. Er wollte sich die Füße vertreten und ein wenig bummeln, vielleicht ein Museum besuchen, aber sobald er losgegangen war, schlugen seine Füße dieselbe Richtung ein wie zwei Tage zuvor. Es war ein sonniger und erfrischend kühler Morgen, an dem es guttat, sich im Freien aufzuhalten. Philippa wollte ihn um zwei Uhr abholen. Die Gassen von Santiago lagen noch im Schatten und erwachten nur langsam zum Leben.
Durch denselben Seiteneingang wie zwei Tage zuvor betrat er die Kathedrale. Sonnenlicht fiel durch die oberen Fenster und hüllte alles in einen silbrig weißen Glanz. Hinter dem Altarraum erkannte Hartmut schemenhaft Leute, die die Statue des Apostels umarmten. Langsam durchquerte er das Hauptschiff, setzte sich auf eine Bank und beobachtete das Treiben bei den Beichtstühlen. Statt durch das seitlich angebrachte Gitter zu sprechen, kniete ein junger Mann frontal vor dem Priester und bewegte die Schultern, als würde er von Krämpfen geschüttelt. Ein anderer erhob sich lächelnd und nahm seine wartende Begleiterin bei der Hand. Europäer und einige Asiaten füllten die Kirche, Kinder und Alte, die Andächtigen, die Unbeteiligten und feixende Jugendliche. Touristen fotografierten trotz der Verbotsschilder, Gläubige falteten die Hände, und zwischendrin schritten katholische Eliteschüler in blauen Kutten, blickten streng und zischelten vernehmlich, wenn es ihnen zu laut wurde.
Man könnte es sein Kirchengefühl nennen: fremd zu sein auf vertraute Weise. Beinahe sicher, dass nur Hirngespinste ihn bedrängten. Zwei Mal seit Marias Umzug hat er nachts die Schlafzimmertür verschlossen, aus Angst vor unerwünschten Epiphanien. Um nicht zu enden wie der glatzköpfige Mann, den er gelegentlich auf dem Bonner Marktplatz sieht. In einer abgetragenen Windjacke verteilt er Pamphlete und wettert gegen die Verderbtheit der Welt, ignoriert, belächelt oder verhöhnt von der geschäftigen Umwelt. Hartmut saß auf der Kirchenbank und konnte den Blick nicht vom Beichtstuhl Nummer fünfabwenden. Der Priester darin war jünger als seine Kollegen, und statt zu lesen oder vor sich hin zu dämmern, legte er beide Hände auf das schmale Fensterbrett, als wollte er eine Plauderei beginnen. ›Pro Linguis Germanica et Hungarica‹ stand in Holz eingraviert über der Tür. Im Aufstehen spürte Hartmut Schweiß auf seine Stirn treten. Ein Gefühl, als wäre er durchsichtig nur für andere, nicht für sich selbst. Hatte Sandrine nicht etwas Ähnliches gesagt? Wenn das stimmt und nicht nur für Kirchen gilt, dachte er, wozu dann das Versteckspiel?
»Vielen Dank«, sagt Philippa ironisch. »Mein gehorsamer Fahrer.«
Hartmut schaut auf und sieht die Ausfahrt rechts aus dem Blickfeld verschwinden. Ein Schild gibt die Entfernung zum nächsten Rastplatz mit vierzig Kilometern an.
»Tut mir leid, ich war unaufmerksam. Wieso hast du nicht eine halbe Minute früher Bescheid gesagt?«
»Weißt du, dass du manchmal die Lippen bewegst, wenn du nachdenkst? Als würdest du leise Selbstgespräche führen. Ich wollte dich nicht stören.«
»Deine Blase«, sagt er ruhig, obwohl er ebenfalls aufs Klo muss und ihren mokanten Tonfall nicht mag. »Jetzt dauert es wieder zwanzig Minuten.«
»Als Kind hab ich dich manchmal am Schreibtisch beobachtet. Wenn deine Tür offen stand, konnte ich dich durch das Schlüsselloch von meiner hindurch sehen. Immer einen Ellbogen aufgestützt und mit dem Kinn auf dem Handrücken. Da hast du auch manchmal vor dich hin geredet, aber was, das konnte ich nicht verstehen.«
»Hm-m.«
»Damals war mir nicht klar, was für einen Beruf du eigentlich hast. Ich hätte es besser gefunden, du wärst Tierarzt.«
»Das ist deine markanteste Erinnerung an mich aus deiner Kindheit: wie ich am Schreibtisch vor mich hin murmele?«
»Jedenfalls die erste, die mir einfällt, wenn du neben mir sitzt und vor dich hin murmelst. Wer ist Sandrine Baubion?«
»Bitte?«
Ohne sich ihm zuzuwenden, deutet Philippa auf einen zusammengefalteten Zettel in der Mittelkonsole. Sandrines Name, die Adresse und der Code ihrer Haustür stehen darauf. Es ist ein gutes Beispiel für seine Gründlichkeit, dass er in einer Notiz für sich selbst den Namen ausgeschrieben hat. Wahrscheinlich hat Philippa beim letzten Stopp an der Tankstelle daraufgeschaut.
»Eine
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