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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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lustig.«
    »Wann hast du mit ihr gesprochen?«
    »Heute Nachmittag.«
    »Hat sie angerufen?«
    »Nein, ich. Um ihr zu sagen, dass Mama und ich mitkommen.« Am Sonntag wird im Fürbittengebet seines Vaters gedacht, und Ruth legt Wert auf die Anwesenheit der ganzen Familie. Da er keine Briefwahl mehr beantragen konnte, werden sie zeitig zurückfahren müssen, was seine Schwester hoffentlich verstehen wird. Für ihre Grünen könnte es ein historischer Tag werden.
    »Deine Mutter kommt mit?«
    »Natürlich kommt sie mit.«
    Er hat die Fahrertür schon geöffnet, nun schließt er sie wieder und kann trotzdem das Herbstaroma riechen, das von der Casselsruhe her über die Grundstücke weht. Kurz taucht Marias Schemen hinter dem erleuchteten Flurfenster auf. Am frühen Abend hat sie ihre dritte Unterrichtsstunde gegeben. Portugiesisch für Anfänger. Die Schüler sind allesamt Frauen über fünfzig, die Das Buch der Unruhe gelesen oder eine Fado-Aufführung gesehen haben und sich seitdem leidenschaftlich für Portugal interessieren. So wie letztes Jahr für die Türkei. Ob er sich darüber lustig machen darf, muss noch entschieden werden. Sie sind wieder mal in der Probephase. Obwohl ihm bis zum Erreichen der offiziellen Berufungsgrenze noch einJahr fehlt, hat er im Frühjahr seine zunehmend masochistischen Bemühungen um einen Wechsel woandershin eingestellt. FU, HU, Potsdam, dann in immer weiteren Kreisen um die Hauptstadt herum, bis Breugmann eines Tages in sein Büro kam und meinte: Herr Kollege, ich appelliere an Ihren Stolz! Allenfalls ein Wechsel innerhalb Nordrhein-Westfalens käme noch in Frage, aber was sollen sie in Wuppertal? Statt hochfliegender Pläne haben sie Nägel mit Köpfen gemacht und dreißigtausend Mark in die Erneuerung des Hauses gesteckt. Küche, Schlafzimmer und das obere Bad, wo jetzt weiß-blaue Kacheln maurisches Flair verbreiten. Ihre Muttersprache zu unterrichten ist nicht Marias Traum, aber wenn sie sich erst einmal zurechtgefunden hat in der Rolle? Für ihn war es auch nicht leicht, auf das zu verzichten, was er als die Vervollständigung der Familie empfunden hätte. Mittlerweile ist er beinahe froh darum. Wir drei hier, hat er zu ihr gesagt. Neuerdings steht er in Kontakt mit Kollegen von der Romanistik, vielleicht tut sich dort, in der portugiesischen Sprachausbildung, eine Möglichkeit auf.
    »Doch, ich glaube, ich könnte einen Witz gebrauchen«, sagt er. Den neuen Außenanstrich haben sie vorläufig zurückgestellt, obwohl das verwitterte Grau der Hauswände ihm düster vorkommt. Hurwitz’ Brief fällt ihm wieder ein. Die Eifel im November, zusammen mit einem gebrechlichen alten Mann, der sehen will, wo sein Bruder gefallen ist. Weil man manchmal nur weiß, was man anderen schuldet, nicht warum.
    »Wieso kommt Helmut Kohl nicht in den Himmel?« Philippa zieht die Schultern nach vorne, als wollte sie in Deckung gehen. In der Hand hält sie das abgerissene Kinoticket, das sie später an ihre Pinnwand heften wird.
    »Keine Ahnung«, sagt er. »Wegen der Spendenaffäre? Nein.«
    Sie schüttelt den Kopf und schaut ihn an mit der undurchdringlichen Miene ihrer elf Jahre. Das Kind, das er immer zuerst in ihr sehen wird, noch vor der anderen Person, die sich dahinter zu formen beginnt.
    »Er passt nicht durchs Ozonloch«, sagt sie.
    Er hört sein eigenes Lachen, ein wenig angestrengt und gleichzeitig erleichtert darüber, dass er den Witz lustig findet. Sie will ihn zum Lachen bringen, weil sein Vater tot ist, und kann nicht wissen, dass er lieber traurig wäre. Wie soll man das einem Kind erklären? Wahrscheinlich stellt sie sich vor, wie es für sie wäre, wenn er stürbe. Gerne würde er länger lachen, heftiger und lauter, aber sein Gesicht spielt nicht mit.
    »Ich weiß, er ist nicht so lustig«, sagt Philippa resigniert.
    »Doch, ich finde ihn ziemlich gut. Besser als neulich den mit dem Bernhardiner.«
    »Über den hast du mehr gelacht.«
    »Sagen wir, der hier ist intelligenter.«
    »Ich kenne auch Witze von João, aber nur auf Portugiesisch.«
    »Ein andermal, okay?« Weil er sie im Auto nicht an sich drücken kann, streichelt er ihre knochige Schulter. »Geh schon mal rein und sag deiner Mutter, ich komme sofort.«
    Er sieht ihr nach, wie sie ums Auto herum und ins Haus läuft. Im Wohnzimmer brennt Licht. Hinter ihm geht jemand die Robert-Koch-Straße entlang und spricht mit seinem Hund. Knapp eine Woche liegt es zurück. Ein Samstagmorgen, als dem Sommer allmählich die Kraft

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