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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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hielte sich im letzten Moment zurück. »Sie haben genug zu tun mit Ihren eigenen Studien.«
    »Ja.« Wieder poltern im ersten Stock schwere Schritte, verharren und kommen die schmale Holztreppe herab, die Hartmut beim Eintreten gesehen hat. »Ich werde es mir überlegen.«
    Bevor sie aufsteht, legt Marsha beide Hände auf ihre Oberschenkel und nickt.
    »Gut. Es hat mich sehr gefreut. Die Tasse nehmen Sie am besten mit. Sie können natürlich jederzeit runterkommen, wenn Sie mehr wollen.«
    Als er zwei Stunden später das Haus verlässt, ist der Schneefall so dicht geworden, dass die Sicht kaum zehn Meter weit reicht. Das Wärmegefühl, das der Rum auf seinen Wangen hinterlassen hat, ist verflogen, und trotzdem fühlt es sich gut an, eingepackt in den Parka durch die Straßen zu laufen und kalte Nachtluft zu atmen. Sein Kopf brummt. Zwei Stunden lang hat er angestrengt zugehört, weil Hurwitz so auf seine Erzählung konzentriert war, dass er nicht merkte, wenn er Hartmut überforderte. Jetzt ist es, als löste sich ein Muskel in seinem Kopf und begänne, vor Erschöpfung zu zittern. Im Gehen hascht er nach den Schneeflocken und wischt sie sich über die Stirn. Erst jenseits der Hennepin Avenue steckt er die Hände in die Taschen und bemerkt den in eine Serviette eingepackten Muffin. Wie ein Filmausschnitt steht ihm die mühsam gebändigte Erregung vor Augen, mit der sein Professor auf und ab lief, nach Büchern suchte, Karten auf- und zufaltete und ihn an Marsha denken ließ, die wahrscheinlich im Esszimmer zur Decke starrte und genau wusste, worum es ging.
    Wird sie ihm übel nehmen, dass er sich sofort bereit erklärt hat mitzumachen?
    Ohne stehen zu bleiben, packt er den Muffin aus und beißt hinein. Beschleunigt den Schritt, obwohl er mit vollem Mund nicht gut atmen kann. Sandrine wartet auf ihn, und er fühlt sich merkwürdig leicht. Bisher sind sie ein paar Mal zusammen in der Mensa gewesen. Haben in der Mall auf dem Rasen gesessen und geredet, als es dafür noch warm genug war, aber vielweiß er nicht von ihr. Sie kommt aus Paris, lebt hauptsächlich von Obst und Salat, hat genug Geld und zu allem eine feste Meinung. Wenn er spricht, schaut sie ihn durch ihre schwarze Hornbrille an, als verdiente jedes Wort ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Obwohl sie meistens anderer Ansicht ist. Als sie wissen wollte, ob er gerne ins Kino gehe, hat er einfach Ja gesagt.
    Die Umrisse von Sanford Hall tauchen aus dem Schneetreiben auf. Helle Fenster schweben in der Dunkelheit. Vor dem Eingang wurden die Gehwege frei geschaufelt und sind bereits wieder eingeschneit. Mit einem Nicken schleicht sich Hartmut an der Rezeption vorbei und findet die Treppe hinauf in den dritten Stock. Neonlicht spiegelt sich in feuchten Fußabdrücken auf dem Boden. Hinter nummerierten Türen erklingen Stimmen und gedämpfte Musik, davor stehen gefütterte Winterschuhe in Pfützen aus geschmolzenem Schnee.
    Hinter Sandrines Tür hört er nichts. Zwei Mal klopft er vorsichtig, vernimmt keine Antwort und glaubt schon, sie sei ohne ihn ins Varsity Theater gegangen, als sich die Tür langsam öffnet und Sandrine ihr bebrilltes Gesicht in den Spalt schiebt. Mit ihrem Lächeln kommt ihm ein Hauch warmer Luft entgegen.
    »Was ist mit den pünktlichen Deutschen los?« Ihr Akzent ist weniger stark als seiner, aber man hört, aus welchem Land sie kommt. Fröstelnd hält sie sich die Arme vor die Brust und blickt den leeren Flur hinauf und hinab.
    »Tut mir leid. Hurwitz hat kein Ende gefunden. Soll ich reinkommen oder ...?«
    »Du hast Schnee auf dem Kopf.« Auf nackten Füßen huscht sie zurück ins Zimmer. Es ist nicht größer als seine Kammer in Walters Haus, hat aber ein hohes Fenster, in dem die Skyline von Minneapolis steht, schemenhafte Türme mit grünlich schimmernden Lichtern. Fast sieht es aus, als würde ein riesiger Ozeandampfer flussaufwärts ziehen. Hartmut lässt die Schuhe im Flur stehen und tritt ein. Während er die Brille über das Innenfutter seines Parkas reibt, stehen sie einander gegenüber zwischen Sandrines wenigen Möbeln: einem Schrank, zweiüberfüllten Bücherregalen und einem kleinen Schreibtisch. Sie wohnt alleine und nutzt das obere Etagenbett als Stauraum.
    »Ich hab Wein gekauft«, sagt sie, »den besten schlechten Wein, den ich kriegen konnte. Eigentlich wollte ich auf dich warten, aber dann – hab ich doch nicht gewartet.« Nickend sieht sie sich um, als fiele ihr das Chaos im Zimmer erst in diesem Moment auf. Nicht nur auf

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