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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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nicht hinter Paragraphen. So unfrei, wie du glauben willst, bist du nicht. Du hast bloß Angst.«
    »Ein paar arbeitsrechtliche Fragen werde ich klären müssen. So ein Ausstieg ist keine Kleinigkeit.«
    »Klär sie! Und dann fass dir ein Herz, und tu es!« Energisch rückt sie ihren Stuhl nach hinten und steht auf. »Ich bin gleich wieder da.«
    »Okay. Klar.«
    Das Kerzenlicht lässt zitternde Schatten über die Regale wandern, als Sandrine den Raum verlässt. Bei Dunkelheit erinnert er an eine Höhle, deren Enge Hartmut zu entkommen versucht, indem er sich erneut in die offene Balkontür stellt. Die kühle Nachtluft auf seinem Gesicht tut gut. Tu es!, denkt er. Dasselbe wollte er sich vorgestern Abend zurufen. Nach einigem Suchen hatte er den Kaufvertrag gefunden und auf dem Schreibtisch ausgebreitet. Herr Meier beugte sich darüber und schien in allem, was er las, seine Erwartungen bestätigt zu finden. Ein Grundstück von fünfhundert Quadratmetern sei klein für hiesige Verhältnisse und kaum mehr als zweihunderttausend Euro wert. Konservative Schätzung. Er habe vonFällen gehört, in denen vierhundertzwanzig Euro pro Quadratmeter gezahlt worden seien und etwas komme für das Haus natürlich dazu. Enttäuschung und Groll stiegen in Hartmut auf, als Herr Meier mit gewichtiger Miene zusammenfasste: Wegen mäßiger Bausubstanz sei der Wert des Hauses gering zu veranschlagen. Ihn durch Investitionen zu steigern, lohne sich nicht. Der wahrscheinlichste Käufer dürfte jemand sein, der es auf den Baugrund abgesehen habe. Dessen Wert steige. Die Schlussfolgerung oder, wie man in Hartmuts Beruf sage, die Konklusion zu ziehen, überlasse er ihm. Dass der Füllfederhalter, den er in seinen fleischigen Fingern drehte, nicht ihm gehörte, schien Herrn Meier nicht zu stören. Mit spürbarem Vergnügen spielte er die Rolle eines Maklers, der einen finanzschwachen Kunden mit den Realitäten des Geschäfts vertraut macht. Als wollte er als Nächstes raten: Vielleicht schauen Sie erst mal woanders.
    Tu es – auch wenn es ökonomisch unklug ist?
    Nachdem er mehrere Minuten auf Sandrine gewartet hat, geht Hartmut in die Küche und sieht sie mit verschränkten Armen vor dem Fenster stehen. Der Geruch von Zwiebeln und Olivenöl mischt sich mit dem süßen Duft seiner Blumen. Drinnen herrscht die schummrige Beleuchtung einer über der Spüle angebrachten Schreibtischlampe, draußen strahlt die nächtliche Metropole. Auf einmal ist ihm mulmig bei dem Gedanken, sich in Kürze verabschieden zu müssen.
    »Den Blick werde ich vermissen«, sagt Sandrine, »wenn ich mit Virginie zusammenziehe.«
    »Gibt’s schon ein Datum für den Umzug? Eine neue Wohnung?«
    »Weder noch. Wir suchen.«
    »Hab ich dich gelangweilt mit meinen Problemen?« Hartmut lehnt sich mit dem Steiß gegen die Spüle. »Falls ja, tut es mir leid.«
    »Ich steh nur ein bisschen hier und hänge meinen Gedanken nach.«
    »Okay.«
    Eine Weile schauen sie schweigend nach draußen. Wie ein dunkles Band windet sich die Seine durch das Lichtermeer. Dann wirft Sandrine einen Blick über die Schulter, als müsste sie sich vergewissern, dass er noch hinter ihr steht.
    »Haben wir uns sehr verändert seit dem letzten Mal? Es kommt mir so vor.«
    »Inwiefern verändert?«
    »Es ging mir durch den Kopf, als ich dir zugehört habe. Wie wir da sitzen und reden und Bedenken wälzen. Über die Ehe, die Arbeit, die Gesundheit.« Es klang, als wollte sie zu einer längeren Rede ansetzen, aber sie schüttelt den Kopf und führt ihr Glas an die Lippen. Hartmut kann nicht erkennen, ob sie ihn über das spiegelnde Fenster ebenso beobachtet wie er sie.
    »Also doch gelangweilt«, sagt er.
    »Es ist nicht deine Schuld, ich bin genauso. Das meinte ich: Früher haben wir nicht ängstlich nach vorne geschaut. Du bist gekommen, um mit mir zu schlafen und ein interessantes Wochenende zu verbringen. Ich hab mich darauf gefreut. Es war zwar falsch, hoffnungslos und verspätet, und das wussten wir auch. Aber wir haben es getan. Und ich zumindest habe es nie bereut.«
    »Obwohl es deine Ehe ruiniert hat?«
    »Die war schon vorher kaputt. Ich spreche auch nicht von Konsequenzen, sondern: Damals bist du gekommen, und es war spannend. Jetzt trinken wir zwei Flaschen Wein, ich erzähle von meinem Schlaganfall und du ...« Eine resignierte Geste beendet den Satz. »Heute Nachmittag hab ich hier am Fenster gestanden, und da war das Gefühl wieder da. Ich hab nichts erwartet, weißt du, ich hab mich

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