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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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war ihm der Fahrer sympathisch. Die freudige Panik vor dem ersten Kind kannte er gut. Das Gefühl, dass abgenutzte Wörter wie ›Verantwortung‹ eine Bedeutung annahmen, von der er früher nichts geahnt hatte. Als Philippa zu Welt kam, war er ein Privatdozent ohne feste Anstellung und mit unregelmäßigem Einkommen. Wie Katharinas Ex-Mann. Nicht sicher, wovon die Familie im nächsten Jahr leben würde.
    »Ich hab damals Tagebuch geführt«, sagte er. »Vorher selten, nachher nie wieder. Aber ein paar Monate lang dachte ich, das will ich festhalten. Die Veränderung. Die sich übrigens nicht festhalten lässt, aber es lohnt den Versuch.« In einer der Boxen im Arbeitszimmer musste es liegen, ein grünes Heft voll hilfloser Reflexionen. Später hatte er nie mehr reingeschaut.
    Schweigend fuhren sie die Robert-Koch-Straße hinauf. Seit fünfzehn Jahren tat er das täglich und genoss jedes Mal den sanften Schwung der Kurven. Als würde der Alltag von ihmabfallen, auch wenn ihn seit zwei Jahren nur ein leeres Haus erwartete. Wie viele Jahre waren vergangen, seit er Philippa zuletzt vom Schwimmbad abgeholt hatte? Hartmut schaute aus dem Seitenfenster. Der Sendemast blinkte verloren in den Himmel, und etwas hatte sich unwiderruflich verändert. Nicht in der Welt, in seinem Kopf.
    »Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen«, sagte Herr Meier mehr zu sich selbst. »Tagebuch schreiben. Klingt ein bisschen retro, oder?«
    »Für Sie bestimmt. Ich meine Ihre Generation. Da vorne links.«
    Seit zwei Jahren saß er nachts allein im Wohnzimmer, hörte es rauschen in den umliegenden Gärten und klammerte sich an die Hoffnung, Maria werde den Umzug nach Berlin zum Irrtum erklären und zu ihm zurückkehren. Ein vergeblicher Wunsch, der genau den Platz besetzte, an den die Einsicht gehörte, dass er eine Entscheidung treffen musste. Diesmal war es kein harmloses Gedankenspiel wie vor drei Tagen auf dem Hackeschen Markt, keine Mutprobe im Kopf, sondern die Wirklichkeit. Er musste einen Zug machen.
    »Ein Haus hier oben war immer mein Traum«, sagte Herr Meier, als sie am Waldrand entlang über Kopfsteinpflaster rollten. Aus dem Funkgerät unter dem Taxameter kamen verzerrte Stimmen.
    »Ich werde meins bald verkaufen«, hörte Hartmut sich sagen. Horchte dem Satz hinterher, ob er abwegig oder unglaubwürdig klang, und fand ihn allenfalls ein wenig kühn. »Meine Tochter studiert in Hamburg, meine Frau hat einen Job in Berlin, und für mich alleine ist das Haus zu groß. Das da vorne mit dem unordentlichen Garten.« Er zog sein Portemonnaie aus der Tasche. Dass es ihm Spaß machte, sich selbst mit Worten voraus zu sein, war das ein gutes oder schlechtes Zeichen? Würde er den Worten folgen oder morgen früh befinden, er habe zu viel getrunken und sich selbst einen Floh ins Ohr gesetzt?
    »Das sind neun Euro sechzig.« Herr Meier hielt direkt vorder Einfahrt. »Aus dem Garten könnte man übrigens mehr machen, auch wenn er klein ist.«
    Zum zweiten Mal an diesem Tag betrachtete Hartmut sein Grundstück durch ein Autofenster. Dunkel und verlassen und in der Tat eines Faceliftings bedürftig, bevor potentielle Käufer es in Augenschein nahmen.
    »Mir fehlt die Zeit, verstehen Sie.«
    Herr Meier streckte die Hand aus und zeigte auf den Kirschbaum neben der Terrasse.
    »Apropos Zeit: Der geht Ihnen früher oder später ans Fundament. Wächst zu dicht am Haus. Quittung?«
    »Nein. Stimmt so«, sagte Hartmut und reichte zwölf Euro nach vorne. Dann blickte er in den offenen Geldbeutel und beschloss, den Schwung des Augenblicks für einen weiteren Schritt zu nutzen. »Hören Sie, wenn ich Ihnen noch zwanzig Euro gebe, dreißig, wenn Sie wollen, würden Sie dann kurz mit reinkommen, sich das Haus ansehen und mir sagen, was ich dafür verlangen könnte?«
    »Ich soll jetzt ...?« Zum ersten Mal drehte Herr Meier den Kopf weit genug nach hinten, um Hartmut direkt anzusehen. Sicher war er damals im Seminar ein Hinterbänkler gewesen oder hatte nur unregelmäßig teilgenommen, sonst müsste sein Gesicht ihm wenigstens vage bekannt vorkommen.
    »Schon seit Wochen hab ich vor, das Haus schätzen zu lassen«, sagte Hartmut, »und komme nicht dazu. Morgen fahre ich für einige Tage in Urlaub und würde die Sache gerne durchrechnen. Sind Sie mit dem Bonner Immobilienmarkt vertraut?«
    »Einigermaßen. Genauer gesagt, ziemlich gut.«
    »Also?« Hartmut zog einen Schein aus dem Geldbeutel und hielt ihn nach vorne. »Nur so Pi mal Daumen, zu meiner

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