Fliehkräfte (German Edition)
einfach gefühlt wie damals – als gäbe es etwas zu erwarten. Ein schönes Gefühl, ich hatte fast vergessen, wie es ist.«
»Dann komme ich mit Blumen.«
»Stell dir meine Begeisterung vor. Blumen! Beim nächsten Mal sind es Pralinen.«
Dann die Heizdecke, will er sagen, aber er kennt das englische Wort nicht.
»Hast du noch Kontakt zu George?«
»Ich weiß, dass er in Montreal lebt. Das ist alles.« Transparent und vage steht sie sich selbst im Fenster gegenüber und spricht mit leiser Stimme. »Manchmal wäre ich gerne wie andere Frauen: ein bisschen heulen und dann zum Friseur gehen. Neue Schuhe kaufen. Wer aus materiellen Dingen Trost ziehen kann, hat wirklich Glück. Ich war dafür immer zu reich. Also betrachte ich mich nüchtern im Spiegel oder schaue aus dem Fenster. Vorhin hab ich gedacht, der beste Teil deiner Erzählung war, als du im Auto ausgerastet bist. Im Ernst. Nicht nur, weil es heißt, dass du deine Frau liebst, sondern weil es richtig ist und guttut. Ich hab kein Ventil. Obwohl ich unsportlich bin, klettere ich. Virginie hat mir auch nicht die Angst davor genommen, ich tue es trotz meiner Angst. Ich zwinge mich dazu, seit dem Schlaganfall noch mehr. Vielleicht nur, um mich von meiner Mutter zu unterscheiden.«
»Solange du beim Klettern besser auf dich aufpasst als damals auf unserer Reise.«
»Hast du mir zugehört? Auf meine Gesundheit zu achten ist mein Beruf geworden. Von März bis heute habe ich kein einziges Mal vergessen, mein Rattengift zu schlucken. Die Angst davor, dass ich zum Pflegefall werden könnte, begleitet mich auf Schritt und Tritt. Mein ganzes Leben ist davon bestimmt. Die Felswände klettere ich hoch, um mich darüber hinwegzutäuschen. Verstehst du das?«
»Es wird sich nicht wiederholen«, sagt er. Gerne würde er sie in den Arm nehmen, aber er weiß nicht, ob sie es auch will. »Du nimmst regelmäßig deine Medikamente und lässt das Blut untersuchen. Das ist vernünftig und ...«
»Gutes Stichwort.« Sie schnaubt verächtlich. »Neulich hat ein Arzt gesagt: Madame Baubion, ich wünschte, alle Patienten wären so vernünftig wie Sie. Ein junger Typ mit Schwimmerfigur, ich hätte ihm am liebsten die Augen ausgekratzt. Nichtsfällt Frauen meines Alters leichter, als vernünftig zu sein. Die Gelegenheiten zur Unvernunft werden sowieso rar. Du kannst mit jungen Dingern auf Parkplätzen rumfummeln. Aber ich?«
»So jung war sie auch wieder nicht.«
»Im Vergleich zu dir schon. Ich müsste dafür bezahlen. Weißt du was? Vielleicht tu ich’s irgendwann. Genug Geld ist da, und es muss noch was anderes geben, als vernünftig zu sein.«
»Sandrine!«
»Sandrine was?«, ruft sie ungehalten. »Das war der Teil deiner Erzählung, der mir am wenigsten gefallen hat. Du wolltest deine Frau damals nicht betrügen und jetzt noch weniger, also solltest du’s nicht tun. Mit mir hast du’s aus alter Liebe getan, okay. Aber aus bloßer Geilheit? Bleib wenigstens dir selbst treu.«
»Manchmal tut man Dinge. Ohne es wirklich zu wollen, ohne zu wissen warum.« Er spürt ihr zorniges Funkeln, das sie ihm über die Fensterscheibe zuwirft. Wie damals vom Fahrersitz aus, wenn er Stan Hurwitz in Schutz nehmen oder Präsident Ford keinen Verbrecher nennen wollte. Wenn er lau war in Fragen, an denen Sandrines Temperament sich entzündete. Dann nannte sie ihn einen hoffnungslosen Fall und fuhr zehn Meilen später rechts ran, um es zurückzunehmen. Saß auf seinem Schoß in ihrem bunten Kleid, in der Weite der Landschaft, aufgebracht und reuevoll und alles andere als lau. In Wirklichkeit hatte sie viel an ihm ändern wollen. Sehr viel.
»Hast du dir schon mal überlegt«, sagt sie jetzt, »dass du der einzige Mensch sein könntest, den du mit deinen Handlungen überraschst? Sie sehen ziemlich folgerichtig aus, wenn man dich ein bisschen kennt. Bestimmt wusste deine Frau, warum du wirklich nach Paris gefahren bist. Was hast du ihr eigentlich erzählt, damals?«
»Das geht dich nichts an«, antwortet er sanft, aber bestimmt. »Das gehört zu den Fragen, die wir einander nicht stellen.«
»Den vielen.«
Vorsichtig tritt er hinter sie. Sieht seine eigene Bewegung im Fenster und dass auch Sandrine sie bemerkt und still hält. Mitden Schultern lehnt sie sich gegen seine Brust, ins Hohlkreuz gehend, um eine intimere Berührung zu vermeiden. Richtig ist, dass ihre Vertrautheit in der fernen Vergangenheit wurzelt und seitdem eher vorausgesetzt als bestätigt wurde. Nichts, worum sie oder er
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