Fliehkräfte (German Edition)
Orientierung.«
»Stecken Sie das wieder ein.« Herr Meier winkte ab, bevor er in schlecht gespielter Entrüstung den Gurt löste und die Fahrertür öffnete. »Sie wissen, dass das keine seriöse Schätzung wird. Eigentlich darf ich das gar nicht.«
»Vielen Dank.« Hartmut stieg auf der anderen Seite aus. Wie immer war es auf dem Venusberg zwei bis drei Grad kühler als unten in der Stadt. Er blickte die nächtlich leere Straße entlang, auf die Reihe gebogener Laternenmasten, deren Licht aufs schwarze Kopfsteinpflaster fiel. Ein Haus in bester Lage, damals nur finanzierbar dank einer kräftigen Finanzspritze seines Schwiegervaters. Neben der Einfahrt hatte vor zwei Jahren der Umzugswagen gestanden und Marias wenige Sachen aufgenommen. Seitdem lebte er mit dem Gefühl, seiner Frau hinterherzusehen. Hatte sich in Stress und Einsamkeit ergeben und nicht gemerkt, wie groß sein Verlangen geworden war, selbst vorauszufahren. Hatte es das früher nicht gegeben: Sehen, wohin die Straße führt, indem man ihr folgt? Hatte Wittgenstein nicht auch darüber geschrieben: 3.02 Der Gedanke enthält die Möglichkeit der Sachlage, die er denkt. Was denkbar ist, ist auch möglich. Das mochte stimmen oder nicht, aber wer es herausfinden wollte, musste den ersten Schritt tun. Dann noch einen. In der Hoffnung, Schwung zu gewinnen aus der eigenen Bewegung.
»So. Das war meine sehr ausführliche Antwort auf die Frage, was mich hierhergetrieben hat.« Hartmut hält inne und sieht Sandrine ins Gesicht. Erst jetzt wird ihm bewusst, wie lange er erzählt hat. Fast eine Stunde, die ganze Geschichte von Marias Auszug über den großen Streit bis vorgestern Abend. Beinahe ist er überrascht, wie bruchlos sich eins aus dem anderen ergeben zu haben schien. Alleine die Schlussfolgerung klingt ein wenig gezwungen, jedenfalls spürt er den Schwung seiner Bewegung nicht so stark wie die Widerstände.
»Verstehe.« Sandrine hockt mit angezogenen Beinen auf ihrem Stuhl und lächelt. Das Kerzenlicht macht die Falten um ihren Mund als schmale Schattenlinien sichtbar. Die Augen blicken ein wenig spöttisch, als hege auch sie Zweifel an seiner Entschlossenheit.
»Wir sind ins Haus gegangen«, sagt er, »der Kerl hat angefangen, sich umzuschauen, und ich dachte: Verdammt ja, es istmöglich. Woran ich hänge, ist schließlich weder das Haus noch Bonn. Nachdem er gegangen war, hab ich die Mail geschrieben und ein Zimmer reserviert. Am nächsten Morgen musste ich nur noch meine Sachen packen und losfahren.«
»Und hier bist du. Nach all den Jahren.«
»Ich weiß nicht mehr, mit welcher Vereinbarung wir damals auseinandergegangen sind. Mir war bloß klar, dass es zu lange her ist und ich den Kontakt nicht abreißen lassen will.« Er greift nach der Karaffe auf dem Tisch und schenkt sich Wasser ein.
»Du willst also tatsächlich dein Haus verkaufen«, sagt Sandrine, ohne auf seine Bemerkung einzugehen. »Vielleicht den Beruf wechseln. Ich gebe zu, das hätte ich dir nicht zugetraut.«
»Neulich hab ich gelesen, dass erwachsene Amerikaner im Schnitt alle fünf Jahre den Wohnort wechseln. In den USA tun die Leute es ständig: lassen das eine hinter sich und beginnen mit dem Nächsten. Du überlegst, mit Virginie zusammenzuziehen. Es ist ganz normal. Warum nicht für mich?«
Durch die Balkontür kommt kühle Luft herein. Sie sitzen einander über leeren Tellern gegenüber, an einem Klapptisch, den Hartmut ebenso sorgfältig stabilisiert hat wie am Nachmittag den Abstellplatz für das Tablett. In dem Journal-Artikel wurde außerdem ein direkter Zusammenhang zwischen Lebenseinstellung und Umzugsbereitschaft hergestellt: Je zuversichtlicher Leute in die Zukunft blicken, desto größer sei ihre Bereitschaft, den Wohnort zu wechseln. Über den Wert für Deutschland schrieben die Autoren, er sei vergleichsweise niedrig, aber im Steigen begriffen.
»Was mit dem Haus geschieht«, sagt er, »ist natürlich nicht die einzige Entscheidung, die demnächst ansteht. Nicht mal die wichtigste.«
»Das hab ich verstanden.«
»Eine Woche bleibt mir, und schon jetzt bin ich nervös, wenn ich meine E-Mails lese. Wahrscheinlich will der Verleger eine Antwort, bevor ich die Möglichkeit hatte, mit Maria zu sprechen.« Hartmut bricht ein Stück Baguette ab, fährt über dieOlivenölreste auf seinem Teller und isst. Was Sandrine als kleine italienische Vorspeisenplatte angekündigt hatte, entpuppte sich als üppiges Mahl aus Meeresfrüchten und Parmaschinken, kleinen
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