Flöte und Schwert
beschritt Omar den gewundenen Bergpfad, den er vor so vielen Tagen heraufgekommen war. Im Abendlicht bildeten die Felsen wilde, dunkle Formen.
Nach einigen Schritten bemerkte er, dass Bahir nicht mehr neben ihm ging.
Er wandte sich um. Der Hüne war im Tor stehen geblieben. Mit zusammengekniffenen Augen sah er zum Himmel auf, dann auf den Pfad. Er leckte sich über die Lippen, und seine Rechte öffnete und schloss sich.
„Was ist los?“, rief Omar.
Bahir bewegte sich nicht von der Stelle, und in seinem vernarbten Gesicht war Verwirrung zu lesen.
Omar fielen die Geschichten wieder ein, die er über Bahir gehört hatte. Der Hüne hatte die Burg nie zuvor verlassen. Wahrscheinlich wusste er gar nicht, dass es eine Welt außerhalb der Mauern gab.
Die Freiheit macht ihm Angst.
Er ging zu Bahir und nahm dessen Hand. Sie war schweißnass. „Geh einen Schritt. Du wirst sehen, es ist ganz leicht.“
Bahir entzog seine Hand dem Griff und wich zurück. Seine Augen hatten sich geweitet. „Viel Steiiin“, sagte er. „Viel Himmel!“
„Hier draußen ist nichts, vor dem du dich fürchten musst.“ Omar blieb stehen, damit sich der Hüne nicht bedrängt fühlte. „Versuch es einfach.“
Bahir rührte sich nicht. Er blickte nach oben und blinzelte gegen das Sonnenlicht, dann warf er Omar einen scheuen Blick zu und schlurfte in Richtung der Schmiede davon.
„Bahir, nein!“, rief Omar. „Bei allen Höllen ...!“ Er wollte ihm nachlaufen, doch nach wenigen Schritten blieb er stehen.
Es wäre nicht richtig.
Immer hatte jemand Bahir vorgeschrieben, was er tun und lassen sollte. Und nun, da er endlich frei war, kam Omar daher und kommandierte ihn herum.
Omar, der ehemalige Sklave, der es wirklich besser wissen sollte
, dachte er.
Er sah Bahir hinterher. Der Hüne hob eines der Wasserfässer an, die bei der Kornkammer standen, und trug es zu den brennenden Gebäuden im hinteren Teil der Festung. Kurz darauf war er hinter der Mauer des Palastes verschwunden.
Er gehört hierher
, dachte Omar. Dann wandte er sich ab und ließ die Bergfestung hinter sich.
Eine halbe Stunde später traf er auf Nadirah und Sarah, die mit den Maultieren bei der Brücke warteten. Obwohl sie ihn mit Fragen bestürmten, hielt Omar seinen Bericht über die Ereignisse in der Festung knapp. Ihm war nicht nach Reden zumute.
Bei Einbruch der Dunkelheit erreichten sie den Fuß des Felsmassivs und schlugen an einer windgeschützten Stelle das Lager auf. Omar entzündete ein Feuer, um Kälte und wilde Tiere fernzuhalten. Nadirah schlug vor, abwechselnd Wache zu halten, doch Omar bestand darauf, diese alleine zu übernehmen. Während die Frauen schliefen, saß er am Feuer, in Reitdecken gehüllt, die Axt griffbereit, und hing seinen Gedanken nach.
Mehrmals nickte er ein, wurde jedoch immer wieder vom Heulen des Windes geweckt. Im Halbschlaf hörte es sich an wie Fauchen und Gebrüll. Um seinen wirren Träumen zu entfliehen, erklomm er einen mannshohen Felsen und blickte über die Wüste. Noch waren die Dünen graue, formlose Gebilde und die Niederungen mit Schatten gefüllt, doch im Westen verfärbte sich bereits der Himmel. Violette, rote und orangefarbene Schlieren durchzogen das Blauschwarz. Omar beobachtete eine Eidechse, die einem schwarzen Käfer auflauerte. Dieser war zu flink für das Reptil und verschwand blitzschnell in einem Erdloch. Die Eidechse starrte fast ein wenig ratlos zur Seite und züngelte. Omar musste schmunzeln.
Als die Sonne aufging, kam Nadirah zu ihm. Eine Zeit lang saßen sie schweigend nebeneinander, dann holte sie aus der Innentasche ihres Umhangs eine Flöte hervor. Er erkannte das Instrument sofort: Es war jenes, das er von Al Tufails Diener bekommen hatte.
„Damals habe ich nur für dich gespielt“, sagte er leise.
Nadirah lächelte. „Ich weiß.“
Omar nahm die Flöte und betrachtete sie lange. „Warum hast du sie aufgehoben?“
„Sie hat mich daran erinnert, dass du immer in der Nähe bist.“ Ihre Augen funkelten. „Na los. Worauf wartest du?“
Der Wind zerzauste ihr Haar, spielte damit. Weit hinter ihr schimmerten weiße Dünen im Licht der Morgensonne.
Irgendwo dort liegt Medina
, dachte Omar.
Er setzte die Flöte an seine Lippen und begann zu spielen.
DER SEELENKRISTALL
In Kaman-Share nannte man ihn Dieb und Schattentänzer. In Kassilia und den anderen Städten des Silbernen Meeres galt er als Lügner, als Betrüger, sogar als Mörder. Dunaris ke Landor hatte tausend Namen, tausend
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