Florian der Geisterseher
irrst du dich aber gewaltig!“ Ruhig und ernst sah sie ihn an. „Ich sehe nur in der Konzentration. Außerhalb muß ich mich informieren, wie jeder andere auch. Und ich frage am liebsten ganz dumm. Das ist für mich die größte Erholung.“
Florian kombinierte wieder einmal. „Du hast dich also nicht auf mich konzentriert?“
Tante Thekla schüttelte den Kopf. „Den ganzen Tag noch nicht. Seit acht Uhr früh habe ich Kundschaft.“
„Dann hast du mich auch nicht hergeholt, mit Tele... Tele...?“
„Telepathisch meinst du? Nein.“ Da blitzte es in den grünen Augen. „Jetzt verstehe ich — weil du vorhin reingeplatzt bist, wie du sagst.“
Florian nickte. Sein Puls schlug schneller, da platzte Agathe herein. Mit der Suppe.
Tante Thekla redete mit ihr und fragte ganz dumm: Wie Agathe ihn denn fände. Ob sie ihn auch gut versorge, und ob sie mal mit ihm an den Waldweiher zum Schwimmen gehen würde.
Florian sagte nichts. Er wollte auf keinen Fall vergessen, wo sie stehengeblieben waren. Und kaum hatte Agathe die Tür wieder geschlossen, faßte er zusammen: „Du hast gesagt, du verstehst jetzt, warum ich reingeplatzt bin.“
„Ach ja!“ sagte Tante Thekla, als müsse sie erst nachdenken. „Mit Konzentration hergeholt habe ich dich gestern. Heute hast du’s dir eingebildet.“
„Ist das schlimm?“ fragte Florian und kam sich sehr dumm vor.
„Gut die Suppe!“ lobte sie und löffelte. „Nein, das ist normal. Sobald einer merkt, daß es feinere Wahrnehmungen gibt, als er sie bisher gebraucht hat, probiert er herum.“
Obwohl sie es ganz ruhig sagte, kam sich Florian jetzt noch dümmer vor, und weil ihm nichts mehr einfiel, hielt er sich an die Suppe. Dabei hatte er noch so viele Fragen. Doch erst beim Kalbsbraten kam er wieder zur Sache. „Wie ist das, wenn es für einen keine Zeit gibt?“
„Wie das ist?“ wiederholte sie. „Hm. Eigentlich langweilig.“
„Langweilig?“ Florian stieß mit dem Knie an das Tischbein. „Du weißt alles, was die Leute...“
Sie winkte ab. „Die Leute denken nur an sich.“
Florian zappelte vor Ungeduld. „Aber sie kommen zu dir, sagen alles, was sie sonst niemand anvertrauen, und das findest du langweilig?“
„Ja“, sagte Tante Thekla. „Es ist, wie wenn dir einer etwas erzählt, was du schon weißt.“
„Aber du weißt Dinge, die noch gar nicht passiert sind! Das muß doch spannend sein?“
„Für mich jedenfalls nicht!“ Sie schüttelte den Kopf.
„ Präcognition nennt man das, dieses Vorauswissen. Oder Prophetie“, plapperte Florian.
„Soso.“ Unbeeindruckt aß sie weiter. „Weißt du, wenn man’s kann, ist es einem egal, wie andere das nennen.“
Es war zum Verzweifeln. Alles, was er gelernt hatte, seine ganze Art zu denken, stimmte plötzlich nicht mehr.
Tante Thekla schien das zu bemerken, obwohl sie sich gerade erholte, denn sie fuhr fort: „Ich will dir ein anderes Beispiel geben: Dein Vater fährt Auto. Kurz vor einer Kuppe überholt er und du denkst: Wenn das mal gutgeht! Weil du die Verkehrslage drüben erst siehst, wenn ihr drüber seid. Da ist die Zeit dazwischen. Ich sitze gewissermaßen auf einem Turm und sehe schon vorher, ob es gutgehen wird oder nicht.“
Mit vollem Mund nickte Florian. Jetzt verstand er und verstand auch, wieso Tante Thekla die Zeitlosigkeit langweilig fand. Er hatte nämlich eine neue Frage, mit der er sie prüfen wollte. „Tante...“, begann er.
„Gut kauen!“ riet sie ihm.
Er tat es, sprach aber weiter. „Was macht jetzt die Frau Wimmer, die vorhin so sauer weggefahren ist? Zeigt sie dich an?“
Tante Thekla kaute vorbildlich. Es dauerte, bis sie antworten konnte: „Das hat sie bereits getan. Aber in drei Tagen zieht sie die Anzeige zurück. Sowie das eingetreten ist, was ich ihr gesagt habe.“
„Toll!“ brummte Florian. „Als Hellseher braucht man sich gar nicht erst aufzuregen...“
„Oder man fängt sehr viel früher damit an.“ wandte sie ein.
Florian hörte nicht mehr zu. Die Neugier auf ihre nächste Antwort nahm ihn zu sehr in Anspruch. „Die hat ja so Pech gehabt mit ihrem Wagen, die Frau Wimmer“, sagte er beiläufig.
„So?“ Tante Theklas Erstaunen klang echt.
Das erstaunte Florian. „Ich dachte, du steckst dahinter. Telekinese!“
„Moment.“ Sie legte das Besteck an den Tellerrand, drückte ihre Fingerkuppen gegen die Schläfen und starrte auf den Bergkristall.
Florian hielt den Atem an. Bei vollem Mund.
„Sehr gut!“ sagte sie plötzlich und
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