Florian der Geisterseher
Gesichter wie gestern. In kleinem Bogen um die Tische herum ging Florian auf August zu, der vom Parkplatz kam.
„Hast du das gesehen?“ Die Frage wurde von einer besonders starken Schnapsfahne begleitet.
Florian nickte.
August fuhr fort: „Diese Schreckschraube hat heute morgen ihren Termin bei Madame gehabt... äh, bei deiner Tante. Da muß ihr Madame irgend etwas gesagt haben, was ihr nicht gepaßt hat. Junge, Junge, hat die sich aufgeführt!“
„Was hat ihr meine Tante denn gesagt?“ fragte Florian, denn das interessierte ihn am allermeisten.
„Ich weiß auch nicht.“ August zog die Schultern hoch. „Jedenfalls war es die reine Wahrheit. Wenn sich Madame in Trance befindet, also wenn sie sich konzentriert, beantwortet sie alle Fragen ohne Umschweife. Ob das taktlos oder grausam ist, kann sie in dem Zustand nicht beurteilen. Sie sagt nur, was sie sieht.“
„Ah, so ist das!“ Florian sah ihn aufmerksam an. „Aber was regt sie sich dann auf? Sie hat die Fragen doch gestellt.“
„ Jaaa !“ August dehnte das Wort und bemühte sich um einen besonders intelligenten Gesichtsausdruck. „Die Wahrheit hören wollen und sie ertragen sind zweierlei! Das erleben wir oft. Es sind schon Leute hier wutschnaubend weggefahren und haben Madame angezeigt. Aber die Sache hat sich jedesmal von selbst erledigt. Es ist nämlich doch so gekommen, wie Madame gesagt hat.“ Er grinste und rieb sich vergnügt die Hände.
„Und das freut Sie so?“ sagte Florian.
Sofort setzte August ein ernstes Gesicht auf. „Nein, das nicht. Ich kenne keine Schadenfreude. Aber die Geschichte mit dem Auto...! Unter dem strengsten Siegel der Verschwiegenheit sag ich dir was.“ Er neigte sich zu Florians Ohr, die Fuselwolke wurde dichter: „Für mich hat Madame da ihre Kräfte spielen lassen! Telekinese nennt man das, wenn sie an einem Ort etwas verändert, an dem sich ihr Körper gar nicht befindet.“
„Telekinese“, wiederholte Florian das Wort.
„Jawohl. Sie hat dem Rolls-Royce auf telekinetischem Weg die Luft rausgelassen, um der Schreckschraube einen Denkzettel zu verpassen, weil die laut gedroht hat, sie werde Madame anzeigen.“
„Meinen Sie wirklich?“ fragte Florian scheinheilig.
August nickte. „Ich bin felsenfest davon überzeugt! Sie will durch ein böses Omen die böse Tat verhindern! Weißt du, Anzeigen sind immer ein bißchen schädlich. Es glauben ja viel zuwenig Menschen an das Übersinnliche! Leider!“
Florian lächelte. Doch das fiel August nicht auf. Er zwinkerte ihm zu und sagte: „Jetzt muß ich dringend an meine Apotheke.“ Damit ließ er ihn stehen.
Florian setzte sich ins Gras und kombinierte: Dann habe ich Tante Thekla geholfen! Und er glaubt, sie war’s. Dabei war’s ich. Ich! Ich war der Telekinese! Mensch, ist das aufregend! Vor Freude schlug Florian einen Purzelbaum. Da kam ihm ein Gedanke, der ihn nachdenklich stimmte: Oder hat sie mich wieder ferngesteuert? Hier weiß man nie, wo man dran ist! Er stand auf und ging ins Haus. An Tantes Tür hing das Schild: Bitte nicht stören!
Heute nachmittag hat sie Zeit für mich! überlegte Florian weiter und ging die Treppe hinauf. Die Tür zu Zimmer sieben stand noch offen. Drinnen schob August den Staubsauger hin und her. Florian kam ungesehen vorbei und nahm die Steiltreppe im Laufschritt. Das Quietschen der Zimmertür war eine echte Nervensäge.
Florian trat ans Fenster und sah hinaus. Er setzte sich aufs Bett, stand wieder auf und schaltete seinen Recorder ein. Er setzte sich auf einen Stuhl, stand auf und schaltete ihn wieder aus. Noch einmal trat er ans Fenster, schaute hinaus, dann auf seine Uhr und verließ das Zimmer. Wieder quietschte die Tür, und die untere Treppe knarzte. In der Diele studierten zwei alte Damen mit Spazierstöcken die Wanderkarte.
„Guten Tag“, sagte Florian und ging nach hinten zur Küche. Agathe stand am Herd; er setzte sich auf die Eckbank.
„Na?“ fragte Agathe nach einer Weile. „Was hast du denn heute vor?“
„Weiß noch nicht.“
Und wie immer, wenn man sich als junger Mensch unschlüssig zeigt, kam sofort der Satz: „Du könntest mir einen Gefallen tun. Aus dem Garten Schnittlauch und Petersilie holen. In der Schublade ist ein Messer.“
Also holte sich Florian das Messer und ging durch die Hintertür hinaus. Kurz darauf kam er wieder, in jeder Hand ein Büschel Grünzeug und das Messer zwischen den Zähnen.
„Du siehst ja grimmig aus!“ Agathe mußte lachen. „Der Schnittlauch stimmt,
Weitere Kostenlose Bücher