Fluch der 100 Pforten
bleibst hier.« Die Stimme des Mannes wurde düsterer. Er erhob sich aus seinem Sessel und füllte den kleinen Raum ganz aus. Das Feuer hinter ihm wurde kleiner. »Die Wände entspringen meiner Fantasmata. Sie sind undurchdringlich.«
Henrys Hand lag schon auf der Klinke. Die Tür versuchte zu verschwinden. Stattdessen aber flackerte sie nur und schrumpfte wieder zu ihrer normalen Größe.
Henry trat ins Nichts und schloss die Tür hinter sich.
Henrietta wusste genau, dass ihre Eltern ihr niemals erlauben würden, Henry zu wecken. Darum fragte sie sie lieber erst gar nicht. Sie ließ Richard und Anastasia weiter über das Frühstück streiten und lief zum Dachboden hinauf. Leise klopfte sie an Henrys Tür, und als sie keine Antwort bekam, trat sie ein.
»Henry?«, fragte sie.
Henry lag auf dem Bauch. Die Arme hatte er fest an die Seiten gepresst.
Henrietta ließ sich neben ihm aufs Bett fallen und rüttelte ihn an der Schulter. »Henry? Wach auf!« Sie stand auf, schob ihre Hände unter seinen Körper und drehte ihn um. »Geht es dir besser?«, fragte sie. »Komm! Wir sehen uns ein paar Orte an.«
Henrys Augen waren zugeschwollen und mit einer krustigen Schmiere verklebt.
Henrietta machte einen Satz bis zur Tür zurück. Wegzulaufen gelang ihr aber nicht, und den Blick von Henrys Gesicht zu wenden ebenfalls nicht. Hinter seiner totenblassen Haut war ein Gespinst blauer Adern zu erkennen, und seine trockenen Lippen waren geschwollen und aufgeplatzt.
»Henry?«, fragte Henrietta noch einmal. Seine Augen waren das schlimmste. Die Wimpern, die unter den entzündeten Lidern noch sichtbar waren, klebten durch einen Schleim an seinen Wangenknochen, den seine Tränendrüsen an beiden Seiten der Nase entlang bis zu den Mundwinkeln hinuntergepumpt hatten, und sogar über seine Schläfen hinweg und bis ins Haar. Kleckse dieses fleischfarbenen Augenkleisters waren auf seinem Kissen zu Klumpen getrocknet.
Henrys Körper versteifte sich. Ein Bein hob sich um einen Zentimeter von der Matratze, und ein verschleimtes Stöhnen rasselte in seiner Brust.
»Henry, bist du wach?«, fragte Henrietta.
»Nein«, brachte Henry undeutlich hervor. »Ich bin tot.«
Henrietta trat wieder an das Bett heran. »Henry … äh … kannst du deine Augen öffnen?«
Die Haut seiner aufgequollenen Lider zuckte kurz. Es sah aus, als lägen Pflaumen darunter. »Nein«, antwortete Henry. »Kann ich nicht.« Er leckte sich über die Lippen und fuhr zusammen. Dann hob er die Hände an den Kopf und befühlte vorsichtig seine Augen.
»Die sind ja gigantisch«, stellte er fest. Vorsichtig begann er an der Kruste zu kratzen.
Henrietta verzog angewidert das Gesicht und wandte sich ab. »Ich hol dir mal ein Tuch oder so was«, sagte sie. »Bin gleich wieder da.«
Unten tauchte Henrietta einen Waschlappen in heißes Wasser und betrachtete im Waschbeckenspiegel ihre eigenen Augen. Sie fühlte sich jetzt ganz schön mies, weil sie gedacht hatte, Henry mache nur Theater. Aber sie hatte den Blitz doch gesehen. Und wenn Henry von irgendwas getroffen worden sein sollte, dann musste es ein unsichtbarer Strahl gewesen sein. Außerdem hatte sie noch nie gehört, dass man von Blitzen solche kugelrunden Glupschaugen bekam. Normalerweise starben die Leute direkt daran oder wurden taub oder trugen Narben in der Haut davon, dass sie aussah wie die Rinde eines Baums draußen auf den Feldern, nachdem der Blitz in ihn eingeschlagen hat. Genau wegen dieser Narben und der verkohlten,
zerfetzten Haut war ihr klar geworden, dass sie lieber doch nicht vom Blitz getroffen werden wollte. Sie hatte es in einem Buch in der Bibliothek nachgeschlagen, und mehr als das erste Bild, das sie sah, war für diese Entscheidung nicht nötig gewesen. Stattdessen konnte sie sich immer noch vorstellen, von einem Tornado in die Luft gewirbelt zu werden – wenn die Bedingungen günstig waren.
Vielleicht war Henry ja allergisch. Sie lächelte. Vielleicht war er allergisch gegen Blütenpollen. Oder er hatte Heuschnupfen. Oder so etwas Ähnliches. Allergisch gegen Blütenpollen und Gewitterblitze.
Sie hielt sich länger im Bad auf als nötig, aber sie hatte es auch nicht allzu eilig, Henry wieder ins Gesicht zu sehen.
Oben hörte Henry Henrietta auf den Dachboden zurückkommen. Es war ihm gelungen, sich im Bett aufzusetzen, und er hatte seine Augenlider so gut wie freigekratzt. Er fasste das entzündete Fleisch mit Daumen und Zeigefinger und schob seine Lider ein wenig nach oben,
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