Fluch der 100 Pforten
Anastasia, weiß wie die Wand, hatte sie schweigend beobachtet und war nicht ein einziges Mal unhöflich gewesen. Penny hatte Henrietta in die Arme genommen und gedrückt und Henrietta hatte sie nicht weggeschubst. Jedenfalls nicht gleich.
Jetzt waren beide wieder weg. Henrietta hatte sie freundlich gebeten zu gehen, und sie hatten es getan. Jetzt war sie allein. Sie saß auf Henrys Bett und war immer noch ein bisschen zittrig.
Sie hätte sich gern gesagt, dass mit Henry alles wieder in Ordnung kommen würde. Dass seine Augen ganz normal waren und er einfach nur alles richtig hätte abwaschen sollen,
anstatt so auszurasten. Aber sie hatte das Gefühl, dass es vielleicht doch nicht so war. Sehr wahrscheinlich sogar. Aber wie auch immer – sie hasste es, wenn Leute die Kontrolle verloren. Das machte alles nur schlimmer. Genau wie heulen.
Henrietta ließ sich auf Henrys Bett fallen, fuhr aber wieder hoch, als sie den feuchten Kissenbezug berührte. Sie nahm das Kissen, um es umzudrehen, und erstarrte. Auf der Matratze lag ein Stück Papier, das einen Stempel mit demselben Grünen Mann trug, mit dem auch die Briefe aus Faeren gesiegelt gewesen waren. Sie las die »Warnung« zuerst schnell durch und dann noch einmal langsamer, und dann betrachtete sie die Unterschrift und den Nachsatz.
Sie seufzte und schleuderte das Papier von sich. Henry hatte allein versucht, durch die Fächer zu schlüpfen! Was sonst sollten »Sabotage und Beförderungserschleichung« wohl zu bedeuten haben? Es gab gar keinen Zweifel, dass er es versucht haben musste! Er wurde wütend, wenn sie mal etwas für sich allein machte. Aber dass er sie in seine Pläne einweihte – das tat er nur, wenn es nicht anders ging. Der einzige Grund, warum sie überhaupt etwas von den Fächern bemerkt hatte, war der, dass sie ihn erwischt hatte, wie er mitten in der Nacht den Putz von der Wand gekratzt hatte.
Aber sie hatte den Schlüssel! Selbst wenn Henry versucht hatte, durch die kleinen Pforten zu schlüpfen – es war ihm nicht gelungen. Weil er sie dazu brauchte. Und jetzt war er entweder blind oder halb verrückt oder er spielte alles nur – abgesehen von seinen geschwollenen Augenlidern. Dabei hätte sie ihm doch helfen können! Dann hätten sie bis jetzt schon Dutzende Fächer erkundet!
Sie überlegte, wo Henry Großvaters Notizbuch aufbewahren mochte. Vielleicht unter seinen Socken, wo er immer alles versteckte?
Henrietta rutschte vom Bett, ging zu seiner Kommode hinüber und langte nach der obersten Schublade. Bevor ihre Hand den Griff berührte, knackte es dreimal laut in der Fächerwand hinter ihr. Sie fuhr zusammen, drehte sich um und ließ ihren Blick über die Fächer gleiten. Die Türen waren allesamt geschlossen.
Es knackte noch drei Mal in der Wand, und beim zweiten Knacken fiel ihr etwas hinter der Glasscheibe des kleinen Postfachs ins Auge. Henrietta ging zum Fußende des Bettes, hockte sich hin und betrachtete das verschmierte Glas. Das Ende von etwas wie einem kleinen Stock oder Stab knallte mit heftigen Schlägen von innen dagegen. Dann verschwand er. Nach einem Moment der Stille erschien ein gefaltetes Stück Papier an seiner Stelle.
»Henrietta?« Anastasias Stimme schallte die Treppe herauf. »Willst du nicht wieder herunterkommen? Was machst du überhaupt da oben?«
Henrietta fuhr zusammen und rief über die Schulter: »Nein, will ich nicht! Ich denke nach.«
»Worüber denn?«, forschte Anastasia.
Henrietta stand auf und ging wieder zu Henrys Kommode. Seine Sockenschublade war leer. Bis auf die Socken. »Typisch Henry«, schimpfte sie. Eine Schublade weiter unten, unter Henrys T-Shirts, fand sie, wonach sie gesucht hatte: die beiden Bände von Großvaters Notizbuch, mit einem Gummi zusammengeschnürt, und einen kleinen Schlüssel.
»Zeke hat angerufen. Für Henry«, rief Anastasia. »Penny telefoniert gerade mit ihm.«
»Von mir aus«, knurrte Henrietta. Sie lief rasch wieder zurück zum Postfach und sperrte es mit dem Schlüssel auf. Mit zitternden Fingern zog sie das schwere Papier hervor und schloss das Türchen dann schnell wieder.
»Hast du den Ragganten gesehen?«, fragte Anastasia. »Ich habe keine Ahnung, wo er steckt.«
»Dad sagt, dass er manchmal für eine Weile verschwindet. Er kommt aber immer wieder zurück.« Henrietta betrachtete das gefaltete Papier in ihren Händen. »Anastasia, ich möchte jetzt weiter nachdenken. Sieh doch einfach mal nach, ob du den Ragganten findest. In der Scheune zum Beispiel.
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