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Fluch der 100 Pforten

Fluch der 100 Pforten

Titel: Fluch der 100 Pforten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Wilson
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wobei er ein paar Wimpern auf seinen Wangenknochen einbüßte. Dann schob er die Lider ein Stück weiter hoch. Er blinzelte, schob die Lider noch etwas höher und rollte die Augen nach links und rechts. Er konnte nichts sehen. Nicht mal Dunkelheit. Rein gar nichts. Genau soviel, wie er mit seinem Ellbogen oder seiner Kniescheibe gesehen hätte. Er spürte, wie sich sein Hals panisch zusammenzog. Er versuchte seine Angst herunterzuschlucken, aber sie wuchs einfach zu schnell und wandelte sich in Grauen.
    »Henry, das ist ja widerlich«, meinte Henrietta. »Mach die Augen zu! Deine Netzhaut trocknet sonst aus.«

    Henry zog die Lider noch weiter hinauf. Er spürte, dass sich seine Augen bewegten und ihren Blick hierhin und dorthin richteten. »Ich kann nichts sehen«, sagte er schlicht. »Ich kann nichts sehen. Henrietta, ich kann nichts sehen!« Seine Knie begannen wild zu zittern. Mit aller Kraft zog er an seinen Augenlidern, trotz des Schmerzes, der sich mehr und mehr ausweitete.
    »Lass das!«, schrie Henrietta. »Du machst es nur noch schlimmer!«
    Henry fühlte ihre Hand auf seiner, der Schmerz in seinen Lidern verschwand und er wusste, dass seine Augen nun geschlossen waren. Etwas Feuchtes und Warmes bedeckte sein Gesicht.
    »Die Augen sahen völlig okay aus«, sagte Henrietta. »Noch nicht mal gerötet. Ich hatte es mir ganz schön schlimm vorgestellt, aber es sind nur die Augenlider. Lass sie ein bisschen in Ruhe.«
    »Ich bin blind«, sagte Henry. »Um Himmels willen! Aber ich muss doch sehen können! Ich will sehen können! Mach mir die Augen auf, Henrietta, mach sie auf!«
    »Psst«, machte Henrietta. »Immer mit der Ruhe. Tut das gut? Ich wisch dir nur dieses Zeug ein bisschen ab, dann versuchen wir es noch mal.«
    »Ich will aber jetzt!«, schrie Henry. »Jetzt sofort! Nimm die Hände von meinem Gesicht!« Henry tastete nach Henriettas Armen und stieß sie so heftig weg, wie er konnte. Er hörte, wie sie stolperte und hinfiel. Dann hob er die Hände wieder an die Augen und versuchte aufzustehen. »Ich will sehen«, flüsterte er. »Ich will sehen, ich will sehen. Sofort! Und ich werde sehen!«

    Irgendwo weinte Henrietta, und Henry hörte Leute im Laufschritt die Treppe hinaufkommen. Er zog die Lider in die Höhe, merkte dann aber, dass das wohl doch nicht der Fall war. Denn es brachte nichts. Dann ging ihm mit einem Mal auf, dass er wohl mehrere Augenlider hatte. Ein zusätzliches Paar. Seine alten Augenlider mussten darunter liegen. Und die waren noch zu. Er bohrte Daumen und Zeigefinger in seine Augen und fühlte nach der nächsten Hautschicht.
    »Gleich hab ich sie«, murmelte er. »Gleich … sie müssen da irgendwo sein. Und dann mache ich sie auf.« Er stolperte und taumelte irgendwie vorwärts. Zuerst stieß sein Ellbogen gegen etwas Hartes und anschließend sein Kopf.
    Starke Hände fassten ihn um seine Handgelenke und rissen ihm die Hände vom Gesicht.
    »Henry!«, sagte Onkel Frank. »Lass das! Hol Luft! Auf der Stelle! Atme!«
    Er lag auf dem nackten Boden, die Arme gegen die Brust gedrückt. Franks raue Hand streichelte seine Stirn. Sein Daumen strich über seine Augenbraue und dann über die Lider und die Wangenknochen. Henry spürte, wie ein Lid hochgezogen wurde.
    »Henry«, sagte Frank leise. »Was siehst du?«
    »Nichts«, sagte Henry und sein Atem krampfte sich in seiner Lunge zusammen. »Unter diesem Augenlid ist noch eins. Das musst du aufmachen. Bitte. Könntest du das bitte für mich tun?«
    Sein Auge ging wieder zu und er wurde auf die Füße gestellt. Frank hielt ihn von hinten fest und legte ihm die Arme an die Seiten.

    »Mädchen«, hörte Henry Onkel Franks Stimme. »Ihr bleibt hier. Wir werden vom Krankenhaus aus anrufen. Dots, such die Nummer von Phil und Ursula.«
    »Ich begleite euch«, sagte Richard. »Ich werde auch keine Umstände bereiten.«
    »Na gut«, meinte Frank. »Aber beeil dich. Und du musst hinten sitzen.«
     
    Henrietta hasste es, wenn sie weinen musste. Nichts war blöder, als zu heulen. Der alte braune Truck war seit einer Stunde weg. Ihre Mutter hatte auf dem Fahrersitz gesessen, während Frank Henry im Arm gehalten und ihm den Waschlappen auf die Augen gedrückt hatte. Richard hatte sich auf der rostigen Ladefläche herumschleudern lassen müssen.
    Penelope und Anastasia waren Henrietta auf den Dachboden gefolgt. Sie hatte geweint, weil sie sauer war, dass Henry ihr wehgetan hatte, weil sie Angst bekommen hatte und weil sie einfach nicht anders konnte.

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