Fluch der 100 Pforten
schlafen und stieg die Leiter hinab. Anastasia war schon wieder ins Haus gegangen.
Am Tisch saßen eine ganze Reihe Leute, aber außer Anastasia wollte offenbar niemand reden. Henry und Richard saßen Henrys drei Cousinen gegenüber. Richard trug ein enges gelbes T-Shirt, über dessen Vorderseite ein Pony trabte und
das er sich notgedrungen von Anastasia geliehen hatte. Er fummelte an dem blauen Gips um sein Handgelenk. Onkel Frank blickte ins Leere und seine Hand, in der er die Gabel hielt, war erstarrt. Tante Dotty verbreitete ein Lächeln, teilte Nudeln mit Butter aus und reichte die Teller herum. Henry sah zu Penelope. Sie strich sich die langen schwarzen Haare aus dem Gesicht und lächelte ihn mit fest geschlossenen Lippen an. Neben ihr saß Henrietta, die Locken offen und das Kinn in die Hand gestützt. Sie starrte ihn schon wieder an. Als sich ihre Blicke aber trafen, sah sie auf die Stelle, wo sich ihr Teller befinden würde, sobald ihre Mutter ihn ihr gegeben hatte. Neben ihr saß Anastasia, die Kleinste, und schwatzte fröhlich.
»Wenn Henry wieder weg ist, bleibt der Raggant doch bei uns, oder? Henry, du hättest ihm längst einen Namen geben sollen! Aber ich kann dir einen Brief schreiben und dir sagen, wie wir ihn genannt haben. Ja? Soll ich das tun?«
Henry sah sie an und zuckte die Schultern. Sie wandte sich an Richard.
»Und was machen wir mit Richard?«, fuhr Anastasia fort. »Er kann doch nicht für immer hierbleiben und meine Kleider tragen!«
»Sei nicht so unhöflich!«, sagte Penelope.
Anastasia guckte überrascht. »Bin ich doch gar nicht. Oder, Mom?«
Dotty nickte. »Immer schön nett sein.« Sie reichte den letzten Teller herum, dann lehnte sie sich an die Rücklehne ihres Stuhls und pustete sich ein paar verirrte Haare aus der Stirn.
»Ich bin nicht unhöflich«, beharrte Anastasia. »Ich bin nur ehrlich. Wir sollten ihn einfach durch die Fächer zurückschicken.«
»Anastasia!«, sagte Dotty tadelnd.
Richard sah auf. Sein schmales blasses Gesicht wirkte über dem gelben Shirt noch blasser. »Wenn ihr von mir sprecht, wäre ich bei dieser Unterhaltung lieber nicht anwesend.«
»Wir reden nicht von dir«, antwortete Dotty schnell.
»Ich will meine Klamotten wieder haben«, murrte Anastasia.
»Frank?«, fragte Dotty. »Könntest du uns bitte Gesellschaft leisten? In dieser Welt, hier bei uns? Nur für einen Augenblick?«
Frank atmete tief ein und kam zu sich. »Wir können ihn überhaupt nicht zurückschicken. Selbst wenn wir das wollten. Nicht ohne die Pforte in Großvaters Zimmer. Und seine Zimmertür ist wieder verzaubert und durch nichts zu öffnen, stimmt’s? Ich will es nicht noch mal mit der Kettensäge versuchen. Und die Fächer auf dem Dachboden sind zu klein, selbst wenn wir Richard auf ein Drittel seiner Größe zusammenfalten würden.«
»Ich verstehe eigentlich gar nicht, warum wir darüber überhaupt reden!«, sagte Dotty. »Frank Willis, du hast versprochen, diese Fächer zuzuputzen, damit keiner mehr auch nur auf den Gedanken kommt, durch sie auf Reisen zu gehen. Willst du denn, dass etwas passiert?«
Einen Moment lang saß Frank unbeweglich da. Seine Kiefer mahlten nicht mehr und seine Hand schwebte über seinem Teller. Dann sprach er: »Es spielt doch keine Rolle. Großvaters
Schlüssel ist weg.« Und er drehte sich noch eine Portion Nudeln um die Gabel.
Dasselbe dachte Henry auch. In seinem Zimmer auf dem Dachboden gab es eine Wand voller Fächer. Nach Boston führte zwar keines, eines aber führte zurück in die Welt, aus der er stammte und aus der der Raggant zu ihm gekommen war. Aber all das spielte keine Rolle. Die Fächer oben auf dem Dachboden waren wie kleine Fenster, die andere Orte mit diesem hier verbanden, aber sie funktionierten nur, wenn es eine Verbindung zu dem Fach in Großvaters Zimmer gab, der Pforte, die so groß war, dass man hindurchschlüpfen konnte. Henry hatte zwar Großvaters Notizbuch, in dem die Kombinationen standen, durch die man die kleineren Fächer mit dem großen verknüpfen konnte. Aber ohne Großvaters Schlüssel ging gar nichts.
»Henrietta hat den Schlüssel«, sagte Anastasia. »Ich habe es dir schon hundert Mal gesagt, aber du hörst ja nicht.«
Henrietta knallte ihre Gabel auf den Tisch und kniff die Augen zusammen. »Ich habe überhaupt nichts.«
»Sie hat ihn nicht in ihren üblichen Verstecken«, fuhr Anastasia fort. »Aber ich werde ihn schon finden.«
Henry stand auf. »Kann ich bitte in mein Zimmer
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