Fluch der 100 Pforten
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Der Himmel dieses frühen Abends war zweigeteilt. Im Osten war er so klar wie er am Mittag gewesen war. Im Westen aber ballten sich kohlschwarze Wolken zusammen, die sich über ihren flachen Unterseiten hoch auftürmten. Der Wind, der die meiste Zeit des Tages über die Felder geweht hatte, wurde nun heftiger und bog und zauste den Weizen bis zum Horizont hin. Die Scheune ächzte hinter Henry und das hohe Gras flatterte um Henrietta herum und verfing sich in ihren Haaren, während sie grub.
Henry hatte den Ragganten mit hinausgenommen, aber der hatte die Nase auf den Boden gedrückt und sich in Richtung des alten Wassergrabens, der die Felder begrenzte, davongemacht. Im hohen Gras war er nicht zu sehen.
»Ich habe die Stelle mit einer Flasche gekennzeichnet«, sagte Henrietta. »Ich schwör’s!« Sie zog eine Grimasse und versuchte sich das Haar aus dem Gesicht zu streichen. »Und jetzt ist sie nicht mehr da.« Sie drehte sich einmal um sich selbst und musterte jedes Fleckchen Boden.
Unter den Wolken im Westen kam hier und da die Sonne heraus, und der Wind jagte ihr Licht über die Felder. Je dunkler die Wolken wurden, umso strahlender leuchteten das Gold und das Grün. Ein tiefes, anhaltendes Grollen, das Henry sogar in der Brust spürte, erfüllte die Luft.
»Wird das etwa ein Tornado?«, fragte er. »Sollten wir nicht irgendwie besser reingehen?«
Henrietta sah auf. »Nein«, sagte sie. »Das ist nur ein Gewitter. Und nicht mal ein besonders heftiges.«
Henry sah hinauf zu den Wolken, über die Felder und auf Henriettas flatterndes Haar. Alles war in goldenes Sonnenlicht
getaucht. Die Zeit schien langsamer zu laufen und Henry genoss jede Sekunde und versuchte sich mehr einzuprägen, als die Erinnerung ihm jemals zugestehen würde. Er hatte das Gefühl, dass es ihm gelang; dass die Zeit für ihn gefror und die Sonne einfach über dem Horizont stehen blieb und die Unwetterwolken, randvoll mit Hagel und Regen und Nacht, sich nicht mehr weiterbewegten und sich damit begnügten, im Sonnenlicht zu schweben.
Etwas, das weiß und grau war, zog Henrys Aufmerksamkeit auf sich und er wandte langsam den Kopf. Der Kater Blake gesellte sich zu ihnen. Er legte sich in das wogende Gras und schlug mit der Pfote nach einem Löwenzahn, der golden wie die Sonne glänzte. Oder sogar noch goldener. Er hatte ein ganz eigenes gelbes Feuer, und die Sonne tat das Ihre dazu, verstärkte das Feuer und tauchte die Unkrautblüte in ihr Licht. Blake schlug noch mal danach, und Henry rutschte von seinem Sitz herunter und kniete im Gras nieder. Er würde diesen Augenblick nicht wirklich festhalten können – aber vielleicht doch noch für einen Moment.
Der Löwenzahn leuchtete. Das konnte nicht nur von der Sonne kommen. Henry blinzelte, und das Leuchten war verschwunden. Was er da anstarrte, war ein knallgelbes kleines Unkraut – sonst nichts. Er versuchte seinen Blick ein wenig verschwimmen zu lassen, in seinem Hirn entkrampfte sich etwas und die Zeit strich durch ihn hindurch, ohne ihn zu berühren. Es war gar nicht der Löwenzahn, den er ansah. Er sah durch ihn hindurch, auf etwas anderes, etwas dahinter oder davor, etwas, das sich an derselben Stelle befand.
In Henrys Kopf begann es zu pochen, und fast hätte er
wieder geblinzelt. Die übrige Welt verflüchtigte sich. Der Wind war weg und sein Körper spürte die Trommelschläge des Donners nicht mehr. Ein Wort brannte ihm auf der Zungenspitze, ein Gedanke, den er zu fassen versuchte.
Und dann sah er es.
Zuerst sah es aus wie Feuer. Als ob der Löwenzahn brenne. Aber nichts verbrannte und es wurde auch nichts schwarz oder zu Asche. Der Löwenzahn schien in dem Feuer zu leben. Oder das Feuer war sein Leben. Und während Henry weiter vor sich hin starrte und nicht auf die Tränen achtete, die ihm aus den Augen rannen, weil er nicht blinzelte, begann er den Löwenzahn auf eine andere Weise zu sehen. Er sah ein Ding, eine Form, ein Zeichen, ein Wort, das sich krümmte und wandelte − eine zerrissene, weit verzweigte Geschichte. Und dann, für einen kurzen Moment, fügte sich dies alles zusammen und er hörte. Er sah den Löwenzahn, hörte den Löwenzahn.
Er streckte die Hand aus.
Irgendwo, in einer anderen Welt, fiel Hagel, der ihn in den Nacken und an den Ohren piekte. Etwas Weißes wischte aus Henrys Augenwinkel, und Blake war verschwunden.
»Ich hab ihn!«, rief Henrietta aus. »Alles okay, Henry?«
Henrys Hand schwebte über dem Löwenzahn. Er fühlte keine
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