Fluch der 100 Pforten
gehen?«, fragte er seine Tante. »Ich habe einfach keinen Hunger.«
Dotty sah ihn mit hochgezogenen Brauen an. »Führst du vielleicht etwas im Schilde?«
Henry versuchte ein Lächeln. »Nein«, sagte er. »Wie denn, ohne Großvaters Schlüssel …«
Als er den breiten Flur im ersten Stockwerk erreichte, blieb Henry erst einmal stehen. Anastasias Stimme vermischte sich mit der von Henrietta. Henry verbannte die Stimmen aus seinem Kopf. Er betrachtete Großvaters Tür, an der die Klinke fehlte. Diese Tür war mit einer Säge attackiert, mit Füßen traktiert und sogar verflucht worden – aber sie war nach wie vor fest zu und es war unmöglich, sie ohne Schlüssel zu öffnen. Jegliche Hoffnung, herauszufinden, woher er stammte, lag hinter dieser Tür.
Henry ging um das Geländer herum und blieb vor den ramponierten Dielenbohlen stehen. Mit seinem Zeh stupste er gegen die ausgefransten Überreste des Teppichs, wo Frank mit der Kettensäge in den Boden geraten war. Genau hier hatte er gelegen, mit den Händen Nimiane von Endors an seinem Hals. Ihr Blut hatte sich wie Säure in sein Gesicht gebrannt. Bei der Erinnerung daran zogen sich Henrys Hals und sein Magen zusammen. Zitternd lief er über den Flur zurück zu der steilen Treppe, die zum Dachboden hinaufführte.
Es gab Schlimmeres, als nach Boston zurückzumüssen!
Auf dem lang gezogenen, gewölbten Dachboden lagen Richards Schlafsack und ein kleiner Stapel geliehener Kleider an der Wand neben Henrys Kammer. Eigentlich hatte Richard am Fußende von Henrys Bett auf dem Boden schlafen wollen – aber die jetzt getroffene Regelung war das äußerste Zugeständnis, das Henry an ein gemeinsames Schlafzimmer machen wollte.
In seinem Zimmer machte sich Henry gleich an das, was ihm mittlerweile zu einem Ritual geworden war. Er knipste das Licht an und trat einen Schritt zurück, um sich die Wand
mit den Fächern anzusehen. Neunundneunzig Fächer in allen möglichen Formen und Größen blickten zurück. Zuerst zog es seine Augen in die Mitte, von wo aus das Fach mit den beiden Kompass-Schlössern die übrige Wand beherrschte. Bei dieser Tür handelte es sich gar nicht mal um die mit den meisten Verzierungen, aber wenn man auf ihr die richtige Kombination einstellte, konnte man durch sie die übrigen Fächer mit der größeren Pforte unten in Großvaters Zimmer verbinden. Und es war die Tür, durch die der Raggant nach Kansas gelangt war.
Nachdem Henrys Blick über auffällige Maserungen und schimmernde Intarsien gewandert war, über abblätternde Lacke und rostige Scharniere, über unterschiedlichste Farben, Oberflächen und Formen, trat er als Nächstes an sein Bett. Er rückte es von der Wand, wo es die Hälfte der beiden unteren Reihen verdeckte. Er hielt den Atem an, zwang sich, am Fußende in die Knie zu gehen und sah ohne weiter zu zögern auf die schwarze Tür mit dem goldenen Knauf in der Mitte. Fach Nummer 8. Die Pforte nach Endor.
Henry befühlte die vier Schrauben, mit denen Onkel Frank diese Pforte verschlossen hatte. Dann stand er schnell auf und schob das Bein seines Betts dagegen. Danach atmete er tief durch. Er wusste, dass Nimiane nicht mehr hinter dieser Tür war. Sie befand sich irgendwo hinter einer anderen Pforte, die seine Cousinen zufällig ausgewählt hatten, während er und die Hexe bewusstlos gewesen waren. Er kannte die Geschichte, wie sie mit dem Baseballschläger einen Schlag auf den Kopf bekommen hatte und wie eisig ihre Haut gewesen war. Anastasia fand noch immer, dass es besser gewesen wäre, ihr das
Messer in den Hals zu stoßen. Aber das hatten sie nicht getan. In großer Angst, dass sie aufwachen könnte, hatten sie die Hexe durch die große Pforte bugsiert, in irgendeine unglückliche Welt. Nimiane war nicht mehr in Endor. Trotzdem fand Henry die Schrauben irgendwie beruhigend.
Als Henry wieder Luft holte, wandte er sich dem Fach Nummer 56 zu, der Tür nach Badon Hill. Er öffnete sie, setzte sich auf sein Bett und wartete, dass die Luft von diesem Ort in sein Zimmer strömte. So war es normalerweise, und wenn ihn dann der Duft umgab von Moos und Regen und einem Wind, der Sturzwellen auslöste und durch Bäume fegte, dann fühlte Henry sich erst richtig in seinem Zimmer angekommen.
Henry legte sich auf sein Bett und seufzte. Er fand die Fächer beängstigend – und gleichzeitig zogen sie ihn an. Hinter einer dieser Pforten lag die Welt, in der er geboren worden war, wo er Geschwister hatte. Mindestens sechs ältere Brüder −
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