Fluch des Südens: Ein Fall für John Gowers (German Edition)
Prophet, über ihn gesprochen hatte, die John Gowers beschäftigten. Was immer man von dem seltsamen Heiligen und seinen Methoden halten mochte, er war ein kluger, vielleicht sogar hellsichtiger Mann, der wusste, was er wollte, und Gowers fragte sich am Ende seiner langen Jagd, ob er das Gleiche auch von sich selbst behaupten konnte.
Seit Deborah tot war und er den letzten ihrer Mörder zur Strecke gebracht hatte, war er nur noch ein Beobachter im endlosen Krieg aller gegen alle gewesen, hatte sein Geschäft, die Aufklärung von Sachverhalten, hatten seine Aufträge als Ermittler ihm kurzfristige, rasch wechselnde Ziele gewiesen. Er war aus Notwendigkeit Detektiv geworden und es eigentlich nur geblieben, weil er es verhältnismäßig gut konnte, weil es seine unterschiedlichen Fähigkeiten forderte und gelegentlich sogar
befriedigte. Jetzt, in einem Teil der Welt, in den zu kommen er nie beabsichtigt hatte, Freund und Feind tot, fragte er sich nach langer Zeit zum ersten Mal wieder, wohin er eigentlich wollte.
Te Kootis Angebot, mit den Maori zu leben, hatte er abgelehnt, weil er noch etwas zu tun hatte und »wegen des religiösen Scheißdrecks«, wie er es vor sich selbst formulierte. Auch der Häuptling der Ngaruahine zog sich von Zeit zu Zeit in die Taha wairua, das Land der Geister, zurück, aber er war kein Prophet und forderte von keinem seiner Anhänger, an ihn zu glauben. Titokowaru war ein Kämpfer – und darin dem Seemann, Lotsen, Soldaten und Investigator sehr ähnlich. Nur der eine wesentliche Unterschied zwischen ihnen wurde ihm klar, als der Häuptling ihn unmittelbar nach der sonderbaren Hinrichtung Fagans gut gelaunt fragte: »Woher kommen Sie, John Gowers? Wo ist Ihre Heimat, Ihre Familie?«
Was sollte er antworten? Er schüttelte nur den Kopf.
Titokowaru schien zu verstehen und wurde ernsthafter.
»Wo sind Ihre Toten begraben?«
Wieder Kopfschütteln. Wo sollte er anfangen? Sein Vater, im Berg? Jane, in den Seziersälen irgendeines Londoner Lehrkrankenhauses? Deborah, auf einer kleinen Insel, die der Mississippi vielleicht längst weggewaschen hatte?
»Kommen Sie heute Abend in meine Hütte«, sagte der Häuptling, als er keine Antwort erhielt. »Ich möchte mit Ihnen reden.« Und er gab seinen Leuten Befehl, den sonderbaren stillen Pakeha nicht länger zu bewachen wie einen Gefangenen. Am Abend aßen sie Fleisch.
»Schwein«, sagte Titokowaru und lächelte. »Sie müssen keine Angst haben.«
»Ich habe keine Angst«, erwiderte Gowers, von der Qual der Fragen tiefer erschöpft als von seinen langen Reisen. »Ich weiß nur nicht, warum ich noch essen soll.«
»Vielleicht, weil es schmeckt«, sagte der einäugige Häuptling, das wüste Gesicht zu einem Grinsen verzogen. Er griff in
den Staub, in den festgestampften Boden der Hütte und hielt Gowers die Hand hin. »Ich bin aus dieser Erde gewachsen, John Gowers, und sie hält mich fest, solange ich lebe, und wird mich festhalten, wenn ich nicht mehr lebe; wie sie es schon mit meinem Vater und seinem Vater und dessen Vater und all meinen Ahnen getan hat seit tausend Jahren, seit die Tangata Whenua, die aus dem Meer kamen, dieses Land in Besitz nahmen.«
Titokowaru musterte den abgezehrten Fremdling lange und eindringlich. »Ich glaube, dass Sie zu den Tangata Whenua gehören«, meinte er dann. »Wir sind also verwandt, und Sie können ruhig zugreifen.«
Gowers lachte und aß.
»Wie kommen Sie nun eigentlich zu Ihrem Moko?«, fragte der Häuptling nach dem Essen und reichte seinem Gast dabei eine der erbeuteten Feldflaschen mit Schnaps. Am Geschmack erkannte der Investigator, dass die Flasche einem Offizier gehört haben musste, überlegte kurz, wem, und sagte sich dann, dass der Mann sicher nichts dagegen hätte, wenn das Getränk seinem Verwendungszweck zugeführt wurde.
Über Te Kootis Flucht von Chatham und seine eigene Verbannung aus dem Lager Nga Tapa hatte Gowers bereits berichtet, aber die etwas heiklen Details bislang verschwiegen. Titokowaru lachte leise darüber, wie der Prophet des Ringatu seinen Navigator überlistet hatte, aber danach schallend über Gowers’ Antwort hinsichtlich göttlicher Offenbarungen.
»Das Moko selbst entehrt Sie nicht, mein Freund«, sagte er, nachdem er sich wieder beruhigt hatte. »Genau genommen ist es der einzige Grund, aus dem Sie mein Lager lebend betreten haben«, fügte er trocken hinzu. »Es hat uns zusammengebracht.« Der Häuptling erhob sich und zog seine europäischen Kleider aus,
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