Fluch des Südens: Ein Fall für John Gowers (German Edition)
denkbaren Lebensentwürfe, und erst die vehemente Fürsprache eines evangelikalen Pfarrers ermöglichte es Lemuel, die zumindest halb intellektuelle Laufbahn eines Veterinärmediziners einzuschlagen. Und nur weil zum Viehbestand einer Baumwollplantage selbstverständlich Sklaven gehörten, hatten weder Vater noch Bruder etwas gegen eine zusätzliche humanmedizinische Spezialisierung des »Familientrottels« einzuwenden.
»Er wird selbst sein bester Kunde sein«, lautete ihr höhnischer Kommentar, denn der sensible, versponnene Junge hatte nie großes Talent für Farm- und Handwerksarbeiten erkennen lassen, sondern nur die Gabe, sich bei der kleinsten entsprechenden Tätigkeit zu verletzen. Auch im Zuge seiner akademischen Ausbildung musste er durch einen Wald geschüttelter Köpfe gehen, und noch die wohlwollendsten Professoren gestanden sich irgendwann resigniert ein, dass sie selten einen Kandidaten der Medizin mit noch geringerem Verständnis für die menschliche Anatomie gesehen hatten.
Sogar im amerikanisch-mexikanischen Krieg, zu dem Willard – nach dem frühen Tod seines Bruders ein höchst wider- und eigenwilliger Plantagenbesitzer geworden – sich freiwillig gemeldet hatte, wurde er von seinen Vorgesetzten im Lazarettdienst sehr bald nur noch mit der Applikation von Einläufen befasst; eine Heilbehandlung, bei der auch ein unbedarfter Anatom kaum fehlgehen konnte, die ihn aber bei den verwundeten Soldaten nicht sonderlich beliebt machte. Dass er trotz seiner Verschrobenheit ein sehr wohlhabender Mann geworden war, verdankte Willard allein der Tatsache, dass der
Boden, den er geerbt hatte, so ungewöhnlich fruchtbar war, dass man nur darauf spucken musste, um Baumwolle zum Wachsen zu bringen.
Längst hatte er das Geschäft seinem ältesten Sohn übertragen, pflegte aus purer Liebhaberei seine rhetorischen Künste und trat fast nur noch bei den bedauernswerten Sklaven seiner Familie in eine bescheidene ärztliche Erscheinung. Noch immer war er dabei der Ansicht, dass es kein Leiden des Körpers oder der Seele gäbe, das sich nicht durch einen kräftigen Einlauf lindern ließe. Erst in jüngster Zeit, auf seine alten Tage, hatte er außerdem die üble Gewohnheit angenommen, bei entsprechend guten Gelegenheiten auch die Geschlechtsreife seiner jugendlichen Patienten und Patientinnen persönlich auf die Probe zu stellen.
Seine philologische Tätigkeit beschränkte sich inzwischen auf Übersetzungsversuche der Carmina Priapeia , die er insgeheim allerdings so gelungen fand, dass er sogar von einer – selbstverständlich anonymen – Veröffentlichung zu träumen wagte. Aber auch zu eigenen Versen ließ Doktor Lemuel Willard sich noch gelegentlich hinreißen, wobei er am reichlich unpoetischen Sujet der Zote seine Beredsamkeit zu schulen glaubte.
»Wie glücklich ist ein Hintern, der gut geschissen hat«, murmelte er deshalb frei assoziierend und auf der Suche nach passenden Reimwörtern vor sich hin, als er an diesem Tag die abgelegenste Ecke seiner Pflanzung aufsuchte, um wieder einmal den Gesundheitszustand des Jungviehs zu kontrollieren und einem Feldarbeiter auf die Beine zu helfen, der sich angeblich den Fuß verstaucht hatte, in Wirklichkeit aber wohl nur faul genug war, seit zwei Tagen nicht zur Arbeit zu erscheinen.
Ein weißer Landstreicher, ein erbärmliches, besitzloses Geschöpf, hatte sich von dem erkrankten Nigger tatsächlich als Botenjunge gebrauchen lassen und den Doktor bestellt. Überall im Süden gab es solche Männer, manchmal verarmte Kleinfarmer, aber häufiger bloße Müßiggänger und Vagabunden, die sogar von den Sklaven verachtet wurden. Die Ritter des Südens betrachteten diesen Abschaum ihrer Gesellschaft als die niedrigste Stufe der menschlichen Existenz. Jesus
Christus! Was blieb denn schon von einem Mann übrig, der seinen Stolz verloren hatte?! Man gab ihm ein paar Pennys und jagte ihn vom Hof.
Lemuel Willard war deshalb sehr erstaunt, den Mann plötzlich noch einmal auf seinem Weg zu entdecken, und noch überraschter, dass er eine Pistole auf ihn richtete.
»Steigen Sie ab, Sir!« Die Stimme klang weniger brüchig und alkoholgetränkt als noch am Nachmittag zuvor, und Doktor Willard fragte sich für eine Sekunde, ob und wo er diese Stimme schon einmal gehört hatte. Der Mann in seinen abgerissenen Kleidern, mit seinem verwilderten Bart, kam ihm jedenfalls nicht bekannt vor, und ein anderer Gedanke verdrängte auch sofort jene erste Frage, während er
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