Fluch des Südens: Ein Fall für John Gowers (German Edition)
analytischen Verstand schieben wollte, aber er konnte manchmal nicht anders, als sich an Doktor Willards Vorstellung zu ergötzen.
Er war ihm unter regem Gelächter als mittelmäßiger Arzt, aber begnadeter Redner vorgestellt worden, den man zu Propagandazwecken auch schon in die Territorien Kansas und Nebraska geschickt hatte – wo nach Ansicht der Großgrundbesitzer die Sklavenfrage entschieden würde. Beale hatte den Doktor zunächst für einen Idioten gehalten, der arrogant genug war, vorher anzukündigen, was er wann, wie und warum sagen und wie das Publikum reagieren würde. Nun lief der Mann mit der Präzision eines Uhrwerks ab, und während nacheinander jeder Punkt seiner Vorhersage eintraf,
verwandelte sich Gabriel Beales Skepsis in ehrlichen Respekt. Seine Anerkennung galt einfach einem Meister seines Fachs, und das umso aufrichtiger, als er selbst ein Meister seines Fachs war.
Keiner der entrüsteten Sklavereigegner würde seinen Auftraggebern ernsthaft gefährlich werden, nur in der Masse stellten sie eine gewisse Bedrohung dar, so wie jede Menschenmasse eine Gefahr ist, wenn sie wörtlich oder sprichwörtlich in Bewegung gerät. Diese Dinge ließen sich kalkulieren. Aber in keinem der bärtigen, blassen, erregten Gesichter fand er auch nur die Spur eines Geheimnisses, einer Verschwörung – und einer Verschwörung war Gabriel Beale auf der Spur. Nur aus diesem Grund waren die meisten seiner Klienten persönlich anwesend, nur aus diesem Grund hatten sie Willard geschickt. Beale wusste, dass die Drahtzieher der Verschwörung aus St. Louis kamen, aber er kannte keine Namen und kein Gesicht, bis er den alten Mann sah.
Er hätte nicht sagen können, was John Lafflin verdächtig machte, vielleicht ein Blick, eine Haltung, die reservierte Aufmerksamkeit, mit der er das Geschehen verfolgte. Dennoch spürte Beale deutlich, dass dieser Mann etwas verbarg, fühlte es irgendwo in seinem Bauch, seiner Brust: ein Gefühl, das nicht immer zu etwas führte, aber ihn noch nie getrogen hatte. Herauszufinden, wer und was der Mann war, würde Routine sein. Gabriel Beale war Privatdetektiv.
33.
Inseln waren von jeher beliebte Schauplätze der Weltliteratur. Ihre geografische Ambivalenz, also ihre Überschaubarkeit einerseits und ihre Abgeschiedenheit andererseits, machte sie zur idealen Projektionsfläche für Träume, Sehnsüchte, Abenteuer, Gedankenexperimente und – spätestens seit Robinson Crusoe – der bürgerlichen Angstlust.
Zunächst nur auf Seemannsgarn und Schiffermärchen zurückgehende exotische Bühnen, auf denen die Naturgesetze aufgehoben
waren und die von entsprechend seltsamen Wesen, Feen, Zyklopen, Baumfrauen, Sirenen bewohnt wurden, mit denen sich Lukian und Shakespeare, Sindbad und Odysseus herumschlagen mussten, machten kulturmüde Theoretiker, Philosophen, die Insel zum sprichwörtlichen Utopia, zum Nicht-Ort . Atlantis, Kythera, Avalon, Taprobana, die Insel der Seligen – überall, wo man nicht war und nicht hinkonnte, war das Leben besser, schöner, gerechter und, spätestens seit Bougainvilles Reisebericht über die Südseeinseln, auch sexuell freudvoller.
Daniel Defoe kommt das Verdienst zu, die Insel zumindest literarisch zum Exerzierplatz zivilisatorischer Tugenden und Gegenstand ihrer Bewährung gemacht zu haben. Schon sechs Generationen kleiner Jungen waren – Rousseau sei Dank – mit Robinsons Insel im Kopf zu selbstbewussten Bürgern und tüchtigen Kolonialisten herangewachsen.
Dass die Insel auch ein hervorragendes Gefängnis war, wusste schon Sophokles und mussten die Ausgesetzten des 17. und 18. sowie die Aussätzigen des gepriesenen 19. Jahrhunderts bitter erfahren. Lemnos und Salas y Gomez, die Teufelsinsel in Französisch-Guayana und schließlich – düsterste von allen – Molokai, das Lepragefängnis im hawaiianischen Archipel, waren die Gegenbilder zum himmelblauen Tahiti und zu der Sonneninsel des Diodor.
Ganz neu war die Idee, Meuterer, Rebellen, Verbrecher und sonst wie gesellschaftlich missliebige Existenzen auf einsame Inseln zu verbannen, also nicht, als die neuseeländische Regierung in Wellington beschloss, die unruhigsten und gefährlichsten ihrer Maorigegner nach Chatham Island, fünfhundert Meilen südwestlich und abgelegen im endlosen Südpazifik, zu schicken. Man hatte das sogar schon einmal gemacht: In einer der seltsamsten Allianzen der Kolonialgeschichte hatten britische Schiffe im Jahr 1835 eine Armee von Maorikriegern auf
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