Fluch von Scarborough Fair
würde Jeff Mundy ihr irgendwann das Herz brechen.
Na schön. Lucy hatte gesagt, was gesagt werden musste, und sie würde es jederzeit wiederholen, wenn sie gefragt wurde.
Oder vielleicht sogar, wenn sie nicht gefragt wurde.
Sarah hatte sich genug gedehnt und erhob sich jetzt vom Boden.
»Hör mal, Lucy. Wenn du erst mal ein Date mit Gray Spencer hast, wegen des Abschlussballs oder so, wirst du bald wissen, was ich meine.«
»Ich mag Gray, aber… hallo?«, schnaubte Lucy. »Hast du mir überhaupt zugehört? Was ich über Schmerz gesagt habe?«
»Wenn du so was wie einen Spaziergang im Park erwartest–«
Ihre Unterhaltung wurde vom Trainer unterbrochen, der die Mädchen zu sich rief und die Trainingseinheiten verteilte. »Ruf mich später an«, sagte Sarah. Lucy nickte, und Sarah rannte davon. Lucy und die anderen beiden Hürdenläuferinnen begannen ihr Training an dicht zusammenstehenden Hürden und übten dabei den Wechsel des Führungsbeins.
Lucy trainierte hart wie immer. Darin lag ihre Stärke als Sportlerin. Sie war gut, besaß aber kein überragendes Talent, was ihr durchaus bewusst war. Doch sie verfügte über Willenskraft und Entschlossenheit. Und wenn sie so weitermachte und Glück hatte, bekam sie im nächsten Jahr vielleicht sogar ein College-Stipendium, was für ihre Pflegeeltern eine große Erleichterung wäre. Das war Lucys eigentliches Ziel. Obwohl ihre Eltern ihr versichert hatten, dass sie sich wegen der Kosten für das College keine Sorgen zu machen brauchte, sie würden das Geld schon aufbringen, wollte Lucy helfen, so gut sie konnte. Denn gerade weil sie so wundervolle Eltern waren und Lucy sich bei ihnen stets geborgen fühlte, spürte sie eine tiefe, innere Dankbarkeit. Deshalb tat sie ihr Bestes, um für Soledad und Leo Markowitz die perfekte Tochter zu sein.
In dieser Hinsicht gab es also keine Probleme. Lucy liebte den Hürdenlauf. Wenn sie in Form war, wenn Schrittlänge, Tempo und der Abstand der Hürden stimmten, gab es nichts Vergleichbares. Dann fühlte sie sich rundum sicher und stark.
Lucy wusste nicht genau, warum ihre Konzentration während des Trainings auf einmal nachließ. War es das Prickeln im Nacken? Das unbestimmte Gefühl, beobachtet zu werden?
Plötzlich kam sie aus dem Rhythmus und patzte an einer Hürde. Mit einem Knie schlug sie hart auf der Bahn auf, und die Hürde fiel um. Als sie aufblickte, sah sie ihre Mutter. Nicht ihre Pflegemutter Soledad, sondern ihre leibliche Mutter Miranda.
Sie war es, eindeutig.
Miranda war wie aus dem Nichts auf der gegenüberliegenden Seite der Bahn direkt neben der Zuschauertribüne aufgetaucht. Sie trug einen lilafarbenen Rock aus hauchdünnem Stoff und ein viel zu weites rotes T-Shirt. Sie schob einen mit leeren Plastik- und Glasflaschen und anderem Müll beladenen Einkaufswagen vor sich her.
»Lucy, bist du okay?«, fragte Sindy Gillespie, die beste Hürdenläuferin im Team, und half Lucy auf.
»Ja.« Lucy erhob sich langsam und überlegte, was sie tun sollte. Sollte sie das Training unterbrechen und versuchen, mit Miranda zu reden? Oder wäre es dasselbe sinnlose Unterfangen wie immer?
Miranda war noch nie an Lucys Schule aufgetaucht. Früher war sie immer zu Soledad und Leo nach Hause gekommen und hatte der ganzen Familie endlosen Ärger und Kummer bereitet. Sindy Gillespie folgte Lucys Blick. Miranda war jetzt stehen geblieben und starrte Lucy mit ihren großen braunen Augen ziemlich verwirrt an.
»Hast du die verrückte Stadtstreicherin schon mal gesehen?«, fragte Sindy. »Sie war gestern draußen vor der Cafeteria und hat in Müll und Essensresten gewühlt und dabei gesungen! Die Ärmste, aber trotzdem… igitt.«
»Nein«, log Lucy. »Ich hab sie noch nie gesehen.« Sofort hatte sie ein schlechtes Gewissen. Aber gleichzeitig war sie auch neugierig. »Was hat sie denn gesungen, Sindy?«
»Ich weiß nicht.«
»Oh.« Lucy biss sich auf die Lippe, um nicht einem inneren Drang zu folgen und ein paar Takte eines bestimmten Liedes anzustimmen. Denn sie wusste auch ohne Antwort, dass es dieses Lied war, das Miranda gesungen hatte. Jedes Mal, wenn Miranda bisher in Lucys Leben aufgetaucht war, hatte sie diese alte Ballade angestimmt. Lucy konnte sie schon nicht mehr hören.
Aber die Ballade verfolgte sie. Ganz unvermittelt schlich sie sich in ihren Kopf und in ihr Ohr, so wie jetzt:
Gehst du zum Markt nach Scarborough?
Petersilie, Salbei, Thymian und Rosmarein.
Grüß mir eine, die dort wohnt.
Sie soll meine
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