Fluch von Scarborough Fair
reden. Sie hatte ihn dieses Jahr vermisst. Er war praktisch wie ein Bruder für sie. Oder nein, wie ein Cousin. Oder– oder so etwas in der Art.
Zach wusste alles über Miranda. All die demütigenden, verrückten Dinge, die Lucy nicht einmal Sarah erzählt hatte. Zach war nicht nur Lucys bester Freund, er hatte auch das ganze letzte Jahr über hier im Haus gewohnt.
Zach hätte Verständnis, weil er miterlebt hatte, wie Mirandas Anwesenheit beim letzten Mal alle fertiggemacht hatte. Die drei Wochen waren die Hölle gewesen, und Soledad hatte Monate gebraucht, um sich zu erholen.
Und so traf Lucy ganz unvermittelt einen Entschluss. Sie wollte das Geheimnis von Mirandas erneutem Auftauchen für sich behalten, bis Zach bei ihnen zu Hause war. Sie wollte es zuerst ihm erzählen, seine Meinung hören. Er würde nicht gleich durchdrehen wie Soledad. Zach kannte die Situation; er kannte ihre Pflegeeltern; ihm konnte sie vertrauen.
Vielleicht sollte sie ihn noch heute Abend anrufen.
Aber eigentlich wollte sie Zach bei dem Gespräch in die Augen sehen und versuchen, an seinem Gesichtsausdruck und seiner Körpersprache zu erkennen, was er möglicherweise für sich behielt.
» Das ist wirklich toll«, stimmte Soledad zu. » Obwohl Nate und Carrie bestimmt traurig sind, weil Zach den Sommer nicht bei ihnen in Phoenix verbringen will.«
» Zach hat keine Beziehung zu Phoenix«, sagte Leo zu seiner Frau. » Als sie sich zum Umzug entschlossen, wussten sie, dass es vermutlich so kommen würde. Offenbar haben sie sich damit abgefunden, oder weshalb waren sie letztes Jahr damit einverstanden, dass er bei uns wohnt und hier die Highschool beendet? Und sicher ist es ihnen lieber, dass er bei uns ist, anstatt mit einem Haufen anderer Jungs in Europa herumzureisen.«
» Und billiger ist es auch«, meinte Soledad lachend.
» Ja.« Leo gab seiner Frau einen Kuss auf die Nase und wandte sich an Lucy. » Da du und Zach im Sommer hier seid, sollten wir vielleicht einen Urlaub planen. Was sagst du dazu, Soledad? Wenn wir jetzt gleich um Urlaub nachfragen, bekommen wir wahrscheinlich zur selben Zeit frei.« Leo und Soledad arbeiteten beide seit über 20 Jahren im Brigham and Women’s Hospital in Boston, Soledad als Krankenschwester und Hebamme und Leo als Teilzeitkraft, um seine Karriere als Musiker zu finanzieren. Dort hatten sie sich auch kennengelernt.
» Großartige Idee«, meinte Soledad.
» Lucy?«
» Ja, auf jeden Fall.« Lucy schob eines der Sitzkissen näher zum Sofa und machte es sich darauf bequem. Pierre setzte sich dicht neben sie. » Habt ihr vorhin nicht was von Abendessen gesagt?«
» Ich bin nicht dran«, erklärte Soledad.
Leo deutete vage in Richtung Küche. » Schätze, ich bin dran. Aber ich hab einen Song eingeübt und hab’s vergessen. Also, was meint ihr? Es ist noch Chili übrig. Wir könnten aber auch was beim Chinesen bestellen. Oder nur Eiskrem essen. Wir haben grünes Eis für dich, Lucy.«
» Pistazie oder Mint Chocolate Chip?«
» Ich glaube, Pistazie.«
Soledad beugte sich zu Lucy hinab. » Wie geht es dir, Schätzchen? Wie war dein Tag?«
» Oh, ganz okay.« Lucy zog die Schultern hoch. Dann sah sie auf und grinste schuldbewusst. » Das Training ist nicht so gut gelaufen, das ist alles. Wenn die Schule neue Hürden kaufen muss, dann deshalb, weil ich sie kaputt gemacht habe.«
» Sehr schlimm für dich?«, fragte Leo.
» Sehr schlimm«, erwiderte Lucy, beugte sich nach vorn zu Pierre und kraulte ihn hinter den Ohren. Leo bemerkte nicht, dass sie seinem Blick diesmal schneller auswich als sonst.
Lucy schämte sich wegen Miranda, und es gab noch so vieles, was sie beschäftigte. All die schrecklichen Fragen, die sie und ihre Pflegeeltern nicht mehr laut stellten und die sie am liebsten aus dem Gedächtnis löschen würde. Wohin war Miranda nach ihrem letzten Auftauchen gegangen? Wie hatte sie gelebt? Musste sie hungern und frieren? Manchmal bestimmt. Musste sie auf der Straße schlafen oder hatte sie irgendwo Unterschlupf gefunden? War sie nicht täglich in Gefahr? Warum waren alle so hilflos gewesen, als es darum ging, ihr beizustehen?
Es war furchtbar, unerträglich.
Aber niemand wusste Rat und alle mussten damit fertig werden.
Lucy hatte es so satt, dass Miranda immer wieder aus dem Nichts auftauchte. Manchmal wollte sie einfach nur ein ganz normales Leben führen. War das so falsch?
» Dad?«, fragte sie abrupt. » Bist du heute Abend zu Hause oder hast du einen Auftritt?«
» Ich
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