Flucht aus dem Harem
entgegen. Sie schleiften einen Gefangenen in ihrer Mitte, dessen Kopf wie leblos auf die Brust gesunken war. Fetzen eines weißen Hemdes flatterten von seinen schmächtigen Armen. Die zerrissenen braunen Hosen gewährten einen Blick auf blut- und schmutzverkrustete Beine. Leila fragte sich, was der Junge wohl verbrochen hatte, um eine solche Bestrafung zu verdienen. Als sie sich auf gleicher Höhe befanden, versuchte sie, unter den rotblonden Haarsträhnen das Gesicht des Gefangenen zu erkennen, aber außer dunklen, angetrockneten Blutspuren sah sie nichts.
Nachdenklich blickte sie den Männern nach, und so merkte sie nicht, dass Zenda und ihre Mutter zwischen zwei Säulen abgebogen waren. Erst als sie ihren Namen hörte, korrigierte sie eilig ihre Richtung und lief den beiden nach.
Im Harem angekommen, verließ Zenda sie, und Leila ging mit ihrer Mutter in ihre Gemächer. Ohne ein weiteres Wort rannte sie in ihr Zimmer und warf sich aufs Bett. Vorsichtig stellte sie das Kästchen vor sich hin und betrachtete es von allen Seiten. Sie zog die Vorfreude absichtlich in die Länge, rollte sich auf den Rücken und hielt die Schatulle hoch, um sich an dem Funkeln der Edelsteine zu erfreuen. Schließlich kniete sie sich vors Bett und zog den goldenen, an einer kurzen Kette befestigten Riegel aus den zierlichen Ösen.
Leila hielt den Atem an, als sie den Deckel langsam und vorsichtig öffnete, gefasst darauf, im Inneren ebenso glitzernde Juwelen zu entdecken.
Sie starrte in das Kästchen. Fassungslos und ungläubig. Es war leer. Da sich ihr Verstand weigerte, diese Tatsache zu akzeptieren, tastete sie wieder und wieder über den mit rotem Samt ausgeschlagenen Boden.
„Das ist ein Geschenk für deine Zukunft“, sagte ihre Mutter neben ihr. Sie kniete sich nieder und zog Leilas Kopf an die Schulter. „Du wirst einmal eine sehr schöne und sehr begehrte Frau sein. Der Pascha wird sich für deine Gunst dankbar erweisen. Seinen Dank kannst du in diesem Kästchen aufbewahren.“
Leila verstand nichts von dem, was ihre Mutter sagte. Sie verstand nur, dass sie sich von dem funkelnden Äußeren täuschen lassen und ein ebenso funkelndes Inneres erwartet hatte. Ein Fehler, der …
„ Leila, wach auf.“ Jemand schüttelte sie unsanft an der Schulter. Leila fuhr hoch und blinzelte verwirrt. Der Dampf im Hamam ließ die Umgebung verschwimmen, und auch das Gesicht ihres Gegenübers wirkte wie durch einen Schleier verhüllt.
„Hatice, was willst du?“ Leila räusperte sich und versuchte, sich in der Gegenwart zurechtzufinden.
„Du schläfst seit zwei Stunden, Leila. Ich dachte schon, dass sie dir etwas ins Essen gemischt haben.“
Die gute Hatice, sie rechnete stets mit dem Schlimmsten. An jeder Ecke sah die Freundin Giftanschläge und Intrigen. Nicht völlig zu unrecht, denn Missgunst und Eifersucht brachten so manche Frau aus dem Harem in ein frühes Grab. Allerdings gab es hier niemanden, der sich so von ihr bedroht fühlte, dass er ihr Gift in den Kaffee rührte. Ihre Stellung war kaum bedeutender als die der Sklavinnen; sie war weder eine Gefahr noch eine ernst zu nehmende Konkurrenz für die anderen.
„Aber nein, Hatice“, sagte sie deshalb. „Ich bin nur müde.“
Das war eine Lüge. Sie war nicht müde, sie war süchtig nach dem Vergessen, das der Schlaf brachte. In ihren Träumen konnte sie über ihr Leben bestimmen, sie konnte alles sein, was sie wollte, und sie konnte die Erinnerungen, die ihr gefielen, wieder und wieder durchleben und alle anderen vergessen.
Gähnend streckte sie sich und stand auf. Hatice reichte ihr ein großes, weißes Mousselintuch, das sich Leila um den nackten Leib wickelte. Ihr schwarzes Haar fiel schwer und feucht hinab bis zur Hüfte. Eine der Dienerinnen würde sich später darum kümmern.
Gemeinsam mit Hatice ging sie barfuß über den Mosaikboden zum Ausgang des Hamam. Auf gefliesten, beheizten Steinbänken saßen und lagen Frauen jeden Alters. Schlanke dunkelhäutige Körper neben üppigen alabasterfarbigen Leibern mit weichen weißen Schenkeln. Einige der Anwesenden planschten in den Becken, andere ließen sich von den Sklavinnen mit duftenden Ölen massieren. Die mit Dampf und den verschiedensten Aromen geschwängerte Luft war beinahe zu dick zum Atmen. Leila fühlte sich wohl hier, verbrachte jede freie Minute im Hamam. Die feuchte Hitze machte träge und lähmte sowohl den Körper als auch den Geist. Ersparte es ihr, nachzudenken, Entscheidungen zu treffen, sondern gestattet es, sich
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