Flucht aus dem Harem
einfach treiben zu lassen.
Nachdem sie das Bad verlassen hatten, trennten sich Hatices und Leilas Wege, da sie in verschiedenen Flügeln des Harems untergebracht waren. Leila bewohnte die Gemächer neben Anwar, ihrer Mutter. Saad Aga, ein ägyptischer Eunuch, der für das Wohlergehen und die Sicherheit von Mutter und Tochter zuständig war, verbeugte sich, ehe er ihr geräuschlos die Tür öffnete. Ebenso geräuschlos schlüpfte Leila an ihm vorbei in den Raum.
Eingehüllt in blassblaue Seide lag ihre Mutter auf dem Bett – wie ein überdimensionaler Kokon, aus dem schwarzes Haar quoll. Ihr Blick war starr zur Decke gerichtet, im Raum hing der unverwechselbare Geruch nach Opium.
Ihre Mutter war zerbrochen. Sie hatte die Weigerung des Paschas, sie zur Frau zu nehmen und somit zu einer Kadine zu machen, nie verwunden. Eine von vielen zu sein, das ertrug sie nicht. Deshalb verließ sie ihre Räumlichkeiten nicht mehr, schlenderte nicht mehr im Garten herum und nahm auch nicht an den wenigen Ausflügen teil, die hin und wieder stattfanden. Stattdessen rauchte sie Opium oder Haschisch, ließ sich die Mahlzeiten ans Bett bringen und schloss sich selbst von allem aus. Ihre Schönheit hatte sich in den aromatischen Dämpfen des Hamam verloren, das süße Lokum, mit dem sie ihren Schmerz zu betäuben versuchte, hatte ihren Leib anschwellen lassen, bis sie sogar nach orientalischen Maßstäben nicht länger als üppig, sondern als grausam entstellt galt.
Der Pascha hatte seit über einem Jahrzehnt nicht mehr nach Anwar geschickt. Und in den wenigen klaren Momenten, die ihr vergönnt waren, beschwor sie Leila, zu fliehen, um nicht so zu enden wie sie selbst.
Leila hatte darüber nachgedacht, aber sie wusste nicht, wie sie es anstellen sollte. Außerhalb des Palastes gab es niemanden, an den sie sich hätte wenden können. Alles, was sie kannte, jegliche Sicherheit, befand sich hier, in der fragilen Geborgenheit des Harems. Und die wollte sie nicht aufgeben.
Sie zog die Tür wieder zu und ging in ihr eigenes Zimmer, das nicht weniger kostbar eingerichtet war als das ihrer Mutter. Brokat floss von den Wänden, kunstvolle Kandelaber aus buntem Glas spendeten Licht, und dicke Teppiche bedeckten gleich in mehreren Schichten den glänzenden Marmorboden.
Das Kästchen, das ihr der Pascha vor zehn Jahren geschenkt hatte, stand auf der Frisierkommode neben dem großen goldgerahmten Spiegel. Sie ließ sich auf den Hocker sinken und zog die Schatulle zu sich. Gewohnheitsmäßig strichen ihre Fingerspitzen über die Edelsteine, ehe sie den Riegel aus den Ösen zog.
Heute war das Kästchen nicht mehr leer. Den hühnereigroßen Rubin hatte ihr der Pascha geschenkt, nachdem er ihr die Jungfräulichkeit genommen hatte; den Ring mit den Smaragden nachdem sie ein zweites Mal zu ihm gerufen worden war und ihm Vergnügen bereitet hatte. Jedes einzelne Schmuckstück hatte seine Geschichte. Auch die Ohrgehänge mit den Perlen. Sie waren das letzte Geschenk des Paschas gewesen; danach hatte er nicht mehr nach ihr schicken lassen.
Über vier Jahre war das nun her. Leila wusste nicht, ob sie seinen Unwillen erregt hatte oder ob er ihrer einfach überdrüssig geworden war. Doch sie wusste, dass sie nie eine Kadine werden würde. Im Gegensatz zu ihrer Mutter machte sie sich über ihre Stellung keine Illusionen. Nicht mehr. Sie war nichts als ein williger Körper, mit dem der Pascha verfahren konnte, wie immer er wollte.
„Leila.“
Die sanfte Stimme riss sie aus ihren Gedanken, und sie erhob sich. Im Zimmer stand eine Frau. Sie trug einen hellgelben Kaftan über orangefarbenen Hosen, die Farbe schmeichelte ihrer olivfarbenen Haut. Jamilah war seit über zwanzig Jahren Hebamme, Lehrerin und Vertraute der im Harem lebenden Frauen. Sie kannte alle Mittelchen, die nötig waren, um eine Schwangerschaft zu verhindern, zu fördern oder zu beenden. Sie unterrichtete die jungen Mädchen in der Kunst der Liebe, in der Kunst sich zu verschönern und in der Kunst, auch im kürzesten Gespräch die Tugenden des männlichen Gegenübers zu preisen. Sie linderte die Schmerzen bei Geburten, bei den monatlichen Beschwerden und wusste Rat bei den meisten Krankheiten.
Zwar gab es im Palast auch einen Arzt, aber der durfte die Frauen nicht berühren. Stattdessen mussten sie ihm angekleidet und verschleiert an Hand von kleinen Elfenbein- oder Ebenholzpüppchen ihre Beschwerden schildern. Aus diesem Grund waren die Diagnosen und die verschriebenen Mittel des Arztes bei weitem
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