Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
passiert ist.«
Auch ich musste das.
Am Flughafen von Miami küssten wir uns zum Abschied, und ich ging schnell von ihm fort und sah mich nicht um. Nur während der Minuten, in denen ich in Atlanta in ein anderes Flugzeug umsteigen musste, war ich wach. Den Rest der Zeit schlief ich, körperlich und seelisch ausgelaugt, in meinem Sitz.
Marino wartete auf mich am Ausgang. Diesmal schien er meine Stimmung zu spüren und ging geduldig und schweigend neben mir durch den Terminal. Die Weihnachtsdekoration und die Geschenkartikel in den Schaufenstern der Flughafengeschäfte verstärkten nur noch meine Niedergeschlagenheit. Ich freute mich überhaupt nicht auf die Feiertage. Ich wusste nicht, wie oder wann ich Mark wiedersehen würde. Um alles noch schlimmer zu machen, mussten Marino und ich bei der Gepäckausgabe eine Stunde vor dem Förderband warten und zusehen, wie irgendwelche Gepäckstücke darauf langsam Karussell fuhren. Das gab Marino die Gelegenheit, mit mir ausgiebig über die letzten paar Tage zu sprechen, während ich immer nervöser wurde. Schließlich meldete ich, dass mein Koffer abhandengekommen sei. Nachdem ich umständlich ein ausführliches, mehrseitiges Formular ausgefüllt hatte, ging ich zu meinem Wagen und fuhr nach Hause, wobei Marino wieder einmal hinter mir herfuhr. Als wir in meiner Einfahrt parkten, verbarg die dunkle Regennacht gnädig die Verwüstung in meinem Vorgarten. Marino hatte mir schon vorher erzählt, dass sie bisher bei der Jagd auf Frankie noch kein Glück gehabt hatten. Er wollte kein Risiko eingehen. Nachdem er mit seiner Taschenlampe mein Haus von außen nach zerbrochenen Fensterscheiben und anderen Spuren, die auf ein gewaltsames Eindringen hätten schließen lassen, abgesucht hatte, lief er mit mir durchs Haus, schaltete in jedem Zimmer das licht an, schaute in die Schränke und sogar unter die Betten.
Wir waren auf dem Weg zur Küche und dachten gerade an Kaffee, als wir beide gleichzeitig die Zehnercodes erkannten, die plötzlich unerwartet aus seinem tragbaren Funkgerät tönten.
»Zwo-fünfzehn, zehn-dreiunddreißig ...«
»Mist!«, rief Marino und riss das Gerät aus seiner Jackentasche.
Zehn-dreiunddreißig war der Code für einen Notruf. Funkmeldungen schwirrten wie Geschosse durch die Luft. Streifenwagen antworteten wie startende Düsenflugzeuge. In einem Laden in der Nähe meines Hauses war offensichtlich gerade ein Polizist erschossen worden.
»Sieben-null-sieben, zehn-siebzehn.« Marino bellte dem Absender der Nachricht zu, dass er auf dem Weg sei, und lief auf meine Haustür zu.
»Verflucht! Walters hat’s erwischt! Er ist ja fast noch ein Kind!« Fluchend rannte er hinaus in den Regen und rief mir über die Schulter zu: »Verrammeln Sie Ihre Bude, Doc. Ich schicke Ihnen gleich ein paar uniformierte vorbei!«
Ich tigerte durch die Küche, bis ich mich schließlich an den Tisch setzte und puren Scotch trank, während starker Regen auf das Dach und gegen die Scheiben trommelte. Mit meinem Koffer war auch meine .38er abhanden gekommen. Weil ich vor lauter Erschöpfung wie betäubt gewesen war, hatte ich vergessen, Marino etwas davon zu sagen. Ich war zu zittrig, um ins Bett zu gehen. Stattdessen blätterte ich durch Beryls Manuskript, das ich schlauerweise im Handgepäck mit ins Flugzeug genommen hatte, und schlürfte meinen Drink, während ich auf die Polizei wartete.
Kurz vor Mitternacht klingelte es an meiner Tür. Ich sprang auf und schaute durch das Guckloch. Anstatt der Polizisten, die ich auf Marinos Versprechen hin erwartet hatte, sah ich einen blassen jungen Mann, der einen schwarzen Regenmantel und eine Art Uniformmütze trug. Er sah durchnässt und durchgefroren aus und suchte Schutz vor dem windgepeitschten Regen. Er trug ein Klemmbrett unter dem Arm.
»Wer ist da?«, rief ich.
»Omega-Kurierdienst vom Byrd Airport«, antwortete er. »Ich habe Ihren Koffer, Ma’am!«
»Gott sei Dank«, sagte ich erleichtert, schaltete die Alarmanlage aus und schloss die Tür auf.
Eine lähmende Furcht durchfuhr mich, als er den Koffer in meiner Diele auf den Boden stellte und es mir urplötzlich wiedereinfiel: Ich hatte auf dem Formular, das ich am Flughafen ausgefüllt hatte, meine Büroadresse angegeben und nicht die Privatanschrift.
17
Unter seiner Mütze hingen ihm dunkle Haare fransig ins Gesicht, und er sah mich nicht an, als er sagte: »Wenn Sie bitte hier unterschreiben würden, Ma’am.« Er reichte mir sein Klemmbrett, während ich in meinem
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