Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
die Äste eines schrecklichen Lebens klammerte. Ihre Mutter war gestorben, und die Frau, die ihr Vater danach geheiratet hatte, hasste Beryl. Weil sie die Welt, in der sie lebte, nicht ertragen konnte, erlerntesie die Kunst, sich ihre eigene Welt zu schaffen. Schreiben war ihre Art, mit dem Leben fertig zu werden, und ihr Talent wurde von den Umständen noch verstärkt, so wie Malen bei Tauben oder die Musik bei Blinden. Sie ließ aus Worten eine Welt entstehen, die ich schmecken, riechen und auch fühlen konnte.
Ihr Verhältnis zu den Harpers war sehr intensiv und ebenso verrückt gewesen. Sie waren wie drei flüchtige Chemikalien, die sich schließlich, als sie miteinander in diesem Märchenhaus an einem Fluss voller zeitloser Träume lebten, zu einer unglaublich zerstörerischen Gewitterwolke zusammengebraut hatten. Cary Harper kaufte und restaurierte das große Haus für Beryl, und in dem Zimmer, in dem ich geschlafen hatte, hatte er sie im zarten Alter von sechzehn Jahren eines Nachts entjungfert.
Als sie am nächsten Morgen nicht zum Frühstück herunterkam, ging Sterling Harper nach oben, um nach ihr zu sehen, und fand Beryl weinend und zusammengekrümmt wie ein Embryo auf dem Bett. Weil sie es nicht wahrhaben wollte, dass ihr berühmter Bruder ihre angenommene Tochter vergewaltigt hatte, versuchte Miss Harper, die Dämonen in ihrem Haus durch Leugnen zu besiegen. Sie sagte kein Wort zu Beryl und wagte es nicht, sich einzumischen. Stattdessen schloss sie jede Nacht leise ihre Tür und schlief von Albträumen gepeinigt.
Beryl wurde weiterhin missbraucht, Woche um Woche. Die Häufigkeit nahm ab, als sie älter wurde, und schließlich endete alles, weil der Pulitzerpreisträger von nächtelangen Saufgelagen und anderen Exzessen, unter anderem mit Drogen, impotent geworden war. Als er seine Laster nicht mehr aus seinen Bucheinnahmen und den Zinsen aus dem Familienerbe finanzieren konnte, bat er seinen Freund Joseph McTigue um Hilfe, der sich freundlicherweise der zerrütteten Harper’schen Finanzen annahm, bis er schließlich den Autor nicht nur »wieder flüssig«, sondern auch wohlhabend genug gemacht hatte, »dass er sich den besten Whisky kistenweise kaufen und Kokainräusche leisten konnte, wann immer es ihm beliebte«.
Beryl zufolge malte Miss Harper das Porträt über dem Kaminin der Bibliothek erst, nachdem sie ausgezogen war. Es war das Porträt eines Kindes, dem man die Unschuld geraubt hatte. Es muss, beabsichtigt oder nicht, für Harper eine ständige Qual bedeutet haben. Er trank mehr, schrieb weniger und litt zunehmend unter Schlaflosigkeit. Er fing an, in Culpeper’s Tavern zu gehen, ein Ritual, das seine Schwester förderte, weil sie in diesen Stunden mit Beryl am Telefon gegen ihn intrigieren konnte. Der letzte Schlag, ein dramatischer Akt der Treulosigkeit, war, dass Beryl, von Sparacino ermuntert, ihren Vertrag verletzte.
Auf diese Art forderte sie ihr leben von Harper zurück und bewahrte, in ihren eigenen Worten, »die Schönheit meiner Freundin Sterling, indem ich die Erinnerung an sie wie eine wilde Blume zwischen die Seiten dieses Buches presse«. Beryl begann mit ihrem Buch, kurz nachdem der Krebs bei Sterling Harper diagnostiziert worden war. Ihre Verbindung war unauflösbar und ihre liebe unglaublich tief.
Natürlich enthielt das Manuskript auch lange Passagen über Beryls Bücher und die Quellen, aus denen sie ihre Ideen geschöpft hatte. Es waren auch Auszüge aus ihren früheren Werken in ihm zu lesen, und ich hatte den Verdacht, dass das eine Erklärung für das unvollständige Manuskript, das wir nach ihrem Tod auf ihrer Schlafzimmerkommode gefunden hatten, darstellte. Das ließ sich natürlich nur schwer beweisen, genauso, wie sich vorzustellen, was in Beryls Kopf vorging. Aber ich konnte die Außergewöhnlichkeit dieses Buches erkennen. Es war auch skandalös genug, um Cary Harper in Angst zu versetzen und Sparacinos Gier danach zu wecken. Aber eines wurde mir an diesem immer später werdenden Nachmittag nicht klar, nämlich, was das Gespenst Frankie heraufbeschworen haben könnte. In ihrem Manuskript wurde der Albtraum, der schließlich ihr leben beenden sollte, nicht ein einziges Mal erwähnt. Ich vermutete, dass es sie einfach überfordert hätte, darüber nachzudenken. Vielleicht hatte sie gehofft, dass es mit der Zeit vorübergehen würde.
Ich hatte Beryls Buch fast zu Ende gelesen, als Mark plötzlich seine Hand auf meinen Arm legte.
»Was ist?« Ich konnte meine
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