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Flucht im Mondlicht

Flucht im Mondlicht

Titel: Flucht im Mondlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N. H. Senzai
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setzte er sich dann zu Oma Abai vor den Fernseher. Ihr zerfurchtes Gesicht spiegelte die Gefühle auf dem Bildschirm wider, während Fadi ihr eine Krankenhausserie, eine Quizsendung und eine Talkshow übersetzte – eine gute Übung, um sein Englisch zu verbessern.
    Tagsüber, wenn seine Mutter ein Schläfchen machte und die anderen Erwachsenen arbeiten waren – selbst Noor, die einen Job in einem nahen McDonald’s gefunden hatte –, ging Fadi online. Er suchte im Internet nach Artikeln über Afghanistan und die Flut von Flüchtlingen, die über die Grenze strömte. Immer wieder gab er »Mariam Nurzai« ein, in der Hoffnung auf einen Zufallstreffer. Abe r es kam nichts dabei heraus.
    Fadi seufzte beim Anblick der beiden Koffer, die am Fußende des Bettes standen. Alles war für den Umzug eingepackt, selbst sein Buch, Die heimlichen Museumsgäste . Er hatte es endlich ausgelesen, konnte sich aber nicht dazu durchringen, es wegzugeben. Es erinnerte ihn an Kabul und aus irgendeinem Grund empfand er Claudia als eine Freundin. Während sie sich mit ihrem Bruder im Metropolitan Museum of Art versteckt gehalten hatte, war es ihr gelungen, das Rätsel um eine Renaissance-Statue zu lösen. Doch vor allem bewunderte Fadi ihren Mut. Deshalb hatte er das Buch wieder in seinen Rucksack gesteckt. Dabei war er auf die alte Honigbüchse gestoßen. Doch er scheute sich, sie herauszunehmen, deshalb blieb sie, wo sie war.
    Jetzt ziehen wir aus , dachte Fadi und erinnerte sich an den Disput, den seine Eltern am Morgen mit Onkel Amin und Tante Nilufer gehabt hatten.
    »Wir können nicht ewig von eurer Gastfreundschaft leben«, sagte Habib. Er saß neben Safuna am Küchentisch.
    Fadi stand mit Salmai im Flur und lauschte.
    »Gastfreundschaft!«, knurrte Onkel Amin. Er sah ein bisschen gekränkt aus. »Was redest du da? Mein Haus ist euer Haus. Mein Essen ist euer Essen.«
    »Ich danke dir für deine freundlichen Worte, Bruder Amin«, sagte Habib mit einem leisen Lächeln. »Aber es wird Zeit, dass wir ausziehen.«
    »Als Paschtune kränkt es mich, dass ihr mein Haus verlassen wollt«, brummte Onkel Amin.
    »Hört auf zu streiten, ihr zwei«, sagte Safuna. »Dieses Haus ist schon für deine eigene Familie zu klein, Bruder Amin. Wir sind euch lange genug zur Last gefallen.«
    »Ihr fallt uns nicht zur Last«, sagte Tante Nilufer. Sie legte ihrer Schwester die Hände auf die Schultern, als wollte sie sie festhalten.
    Aber Fadi wusste es besser. Onkel Amin hatte nach seiner Einwanderung in die Vereinigten Staaten vor drei Jahren die Prüfungen der Gesundheitsbehörde, die er absolvieren musste, um als Arzt arbeiten zu können, nicht bestanden. Deshalb hatte er einen Job als Labortechniker im Leichenschauhaus angenommen, um seine Familie ernähren zu können, und studierte nebenher, wenn er die Zeit dazu fand. Und vor zwei Wochen hatte Onkel Amins Bruder seine Arbeit verloren und war mit seiner Frau und seinen drei Kindern zu ihm gezogen. Tagsüber bildete sich manchmal eine lange Schlange im Flur vor dem Badezimmer. Und neuerdings redeten die Erwachsenen viel von einer Verschlechterung der Wirtschaftslage.
    »Ihr gehört zur Familie«, betonte Onkel Amin. »Ihr müsst erst wieder Fuß fassen. Dann könnt ihr ausziehen.«
    »Was ich als Taxifahrer verdiene, reicht uns zum Leben«, sagte Habib.
    Fadi zuckte zusammen. Sein Vater hatte gehofft, am örtlichen College lehren zu können, aber in der agrarwissenschaftlichen Fakultät war keine Stelle frei.
    »Aber was ist mit Safuna?«, wandte Tante Nilufer ein. »Die Ärzte wissen immer noch nicht genau, was ihr fehlt. Sie braucht Pflege.«
    »Schon gut, Nilufer, Jan «, unterbrach Safuna ihre Schwester. »Ich fühle mich schon viel besser. Noor und Fadi können mir helfen. Wir ziehen nur ein paar Blocks weiter. Du kannst mich also besuchen, wann immer du willst.«
    » Nächste Woche hast du einen Arzttermin. Ich hole dich ab und bringe dich hin«, beharrte Tante Nilufer. »Das muss sein.«
    »Natürlich«, sagte Safuna.
    Nach einigem Hin und Her war es beschlossene Sache, dass sie in eine eigene Wohnung ziehen würden.
    I hr neues Zuhause in einer Wohnsiedlung, die sich Paradi se Apartment Complex nannte, hatte nichts Paradiesisches. Sie konnten sich nur eine winzige Dreizimmerwohnung mit ausgeblichenen Linoleumböden, braunem Velours­teppich und einem gesprungenen Spülbecken leisten. Ihr Haus in der Shogund-Straße war zehn Mal so groß ge­wesen. Fadi stand in der Eingangstür und seufzte.

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