Flucht in die Hoffnung
Tunesien den Rücken und klapperten unzählige
Kliniken in Belgien ab. Meistens übernahm ich die Kommunikation, stellte ihn
vor und pries ihn an. In Brüssel klappte es endlich. Farid erhielt einen
Ausbildungsplatz für den Facharzt Arbeitsmedizin. Eine Farce, wie sich schnell
herausstellen sollte, denn der Unterricht beschränkte sich auf zwei Stunden
wöchentlich.
Es war schwierig, in Brüssel eine günstige Wohnung zu finden. Das
war meine Aufgabe. Schließlich mietete ich eine kleine Zweizimmerwohnung für
uns. Schön war sie nicht, um uns herum bloß Häuser, nirgends Grün, doch ich war
guter Dinge, denn Brüssel bedeutete für uns ja nur einen Zwischenstopp. Hier
würden wir bestimmt keine Wurzeln schlagen. Es ging jetzt einzig und allein um
Farids Facharztausbildung.
In Belgien konnte ich nicht als Reiseleiterin arbeiten und musste
mir etwas Neues suchen. Auch das gestaltete sich schwierig. Farid unterstützte
mich nach Kräften. Er wollte unbedingt, dass ich arbeitete. Vielleicht wollte
er es mir ersparen, herumzuhängen wie er. Das tat ihm nicht gut. Manchmal hatte
ich den Eindruck, er litt an Depressionen. Das Land war ihm fremd, seine
Familie und seine Freunde fehlten ihm, und er hatte bloß zwei Stunden
Unterricht pro Woche. Was tun in der restlichen Zeit, wenn man kein Geld zur
Verfügung hatte und deshalb in der engen Wohnung hockte?
Wenigstens ich fand einen Job bei einem großen deutschen
Chemieunternehmen, wo ich den flämischen Mitarbeitern in Teilzeit Deutsch
beibrachte. Ohne meinen Vater und meine Oma, die uns finanziell unterstützten,
wären wir in Brüssel verhungert.
Im September 2001 besuchten wir meine Oma in Velbert. Ob sie Farid
als Mensch mochte, konnte ich nicht einschätzen, als Arzt aber war sie sehr angetan
von ihm. Sie nutzte jede Gelegenheit, ihm von ihren Krankheiten und denen ihrer
Nachbarinnen zu erzählen, und störte sich nicht daran, dass sie keine
gemeinsame Sprache teilten. Wofür hat der liebe Gott den Menschen Hände und
Füße gegeben … und eine Enkelin, die übersetzte, wenn es mal ans Eingemachte ging.
Farid hörte zu und nickte und zeigte sich von seiner Zuckerseite. Hin und
wieder warf er ein paar Sorgenfalten auf sein Gesicht und fühlte meiner Oma den
Puls. Das mochte sie besonders gern.
»Nach jeder Konsultation bei ihm«, vertraute sie mir an, »fühle ich
mich um Jahre verjüngt!«
»Schön«, freute ich mich.
Ich selbst hielt allerdings wenig von Farids medizinischen
Fähigkeiten. Er behandelte seine Patienten nach Glaubenssätzen, die mir
veraltet erschienen. Bei einem harmlosen Schnupfen riet er zu Antibiotika; er
empfahl für alles Antibiotika, sie waren seine Wunderwaffe. Hinzu kam, dass er
zwei linke Hände hatte, an denen hilflos zehn linke Daumen hingen. Handwerklich
war er völlig unbegabt, ungeschickt, ja geradezu tölpelhaft. Weder konnte er
sich ein Spiegelei braten noch eine Wunde nähen. Mir taten seine zukünftigen
Patienten von Herzen leid, aber solange er es bei meiner Oma beim Pulsfühlen
beließ, sah ich keine Veranlassung einzuschreiten.
Obwohl ich mich selbst intensiv mit Heilkunde beschäftigt und sogar
mit dem Gedanken gespielt hatte, eine Ausbildung zur Heilpraktikerin zu beginnen,
behandelte Farid mich wie einen ahnungslosen Laien. Ich hatte einen anderen
Ansatz als er. Als Anthroposophin sah ich den Menschen ganzheitlich und wollte
auch so behandelt werden. Farid hingegen wäre in einem Pharmakonzern ideal
aufgehoben gewesen. Das Thema Medizin jedenfalls war ein ständiger Streitpunkt
zwischen uns beiden.
In Tunesien, so stellte ich fest, waren wir glücklicher gewesen.
DER 11. SEPTEMBER 2001
Am 11. September 2001 fuhr ich mit Farid nach Düsseldorf.
In einem Elektrogeschäft in der Innenstadt lief auf mehreren großen
Bildschirmen offenbar ein und derselbe Action-Film, der Ton war abgestellt:
Hochhäuser und Rauchwolken. Kurz darauf sah ich den Film noch einmal. Als ich
mich später mit Farid am Hauptbahnhof traf, wurde uns klar, dass es gar kein
Film war. Vor dem Riesenbildschirm in der Bahnhofshalle drängten sich die
Menschen mit in den Nacken geneigten Köpfen. So still war es an einem Bahnhof
noch nie gewesen. Jeder versuchte für sich zu begreifen, was geschehen war.
Nach und nach kreiste die Berichterstattung, die wir abends bei meiner Oma vor
dem Fernseher verfolgten, die Täter ein.
Mir schwante, dass dieser 11. September für unser Leben Konsequenzen
haben würde. Zu meiner Verstörung trug bei, dass Farid
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