Flucht in die Hoffnung
Weile nehmen
würden, dann könnte ich heim zu Mohamed fliegen. Sie willigten ein, und ich
ließ mir einen Termin beim Richter geben und bat um die Erlaubnis, mein Kind
hier in den Bergen zu lassen.
»Bringen Sie mir den Mann, der die Verantwortung für das Kind
übernehmen will, dann sprechen wir weiter.«
In Tunesien kann man kein Kind adoptieren, nur eine Pflegschaft auf
Zeit übernehmen. Das nennt man Kafalla . Da ich das Sorgerecht
hatte, musste ich Farid nicht fragen. Nach einem Gespräch mit Mohameds Vater
stimmte der Richter zu. Emira durfte bei Mohameds Eltern bleiben, worauf sie
sich freute, und wurde wegen des Besuchsrecht ihres
Vaters noch zweimal nachdrücklich gefragt.
»Nein, ich möchte meinen Vater an Sonn- und Feiertagen nicht sehen«,
blieb sie bei ihrer Aussage.
Zur Adventszeit 2010 war ich wieder in Deutschland. Mit Mohameds
Vater war besprochen, dass ich in ein, zwei Monaten wiederkommen sollte. Ich
schickte Emira und Mohameds kleiner Schwester Nawres Päckchen mit warmer
Kleidung und Winterstiefeln und rief sie oft an. Bei jedem Telefonat hatte ich
das Gefühl, dass es ihr den Umständen entsprechend gut ging, obwohl ihr
Schulweg nun eine Stunde betrug: den Berg runter und dann auf steinigen Pfaden
durch eine karge Landschaft, wo man ganz schön Angst kriegen konnte, wenn die
Hunde kamen.
»Da muss man immer einen Stein in der Hand haben, Mama.« Und am Nachmittag die ganze Strecke zurück, noch mal eine
Stunde.
Bald darauf erzählte Mohamed mir von den Unruhen in Tunesien, die er
bislang von mir ferngehalten hatte, um mich nicht zu beunruhigen. Ein Mann
namens Mohamed Bouazizi hatte sich vor dem Rathaus von Sidi Bouzid mit Benzin
übergossen und angezündet, nachdem ihn die korrupten Behörden daran gehindert
hatten, sich als Obstverkäufer auf dem Marktplatz zu verdingen. Diese
Protestaktion sollte bald viele Nachahmer finden, denn so wie ihm ging es
unzähligen Menschen, auch Hochschulabsolventen, die verzweifelt versuchten,
ihre Familien mit kleinen Gemüseständen irgendwie über Wasser zu halten, und
dabei der Willkür und den Repressalien von Polizei und Behörden ausgesetzt
waren. Die Menschen wollten die Verhältnisse nicht mehr hinnehmen. Der
arabische Frühling begann.
Tag und Nacht saßen wir vor dem Computer, um Nachrichten aus
Tunesien zu sammeln, denn in Deutschland war die Not der tunesischen Bevölkerung
zu diesem Zeitpunkt noch kein Thema. Mohamed erhielt Videos von Toten und
Verletzten, schreckliche Bilder, die er weiterleitete, um endlich ein Echo in
der deutschen Öffentlichkeit zu erreichen. Das erklang nur zögerlich,
vielleicht ausgelöst von dem schrecklichen Bild des Fernsehsenders Al Jazira,
in dem einem jungen Mann das Gehirn aus dem Kopf geprügelt worden war.
Dann endlich erreichte die Not der Aufbegehrenden auch Deutschland.
Als im deutschen Fernsehen über die Unruhen berichtet wurde, stapelten sich die
Toten und Verletzten in unserem Computer bereits. Für mich war es unfassbar,
dass die deutsche Öffentlichkeit so lange die Augen verschlossen hatte vor den
Geschehnissen in Tunesien.
Mit unseren Herzen waren Mohamed und ich bei den Demonstranten. Wir
wünschten uns beide so sehr ein freies Tunesien, ein Ende der Diktatur,
Freiheit für Tunesien, Ben Ali geh nach Hause! Horra horra, Tunesia, horra horra
Ben Ali a la Bara. Ich war regelrecht euphorisch, denn ich
wusste, dass uns die Jasmin-Revolution eine einzigartige Chance eröffnen würde.
Um Emira musste ich mir keine Sorgen machen: In den Bergen war sie in Sicherheit.
Als die Nachricht verkündet wurde, dass Ben Ali nach Saudi-Arabien geflohen
war, sprangen wir jubelnd durch die Wohnung.
Mohamed hatte in meiner Abwesenheit Kontakt zu einem Anwalt
aufgenommen, der ehrenamtlich arbeitete. Er schilderte ihm meinen Fall und
unsere Verzweiflung, weil Emira nicht bei uns leben konnte. Der Anwalt versprach,
sich unseres Falls anzunehmen, und riet Mohamed und später mir, mich an die für
uns zuständige Bundestagsabgeordnete zu wenden. Das tat ich dann auch. Als
Hauptproblem stellte sich schnell heraus, dass Emira keinen deutschen Pass mehr
hatte, der uns ja mutwillig weggenommen worden und mittlerweile wohl irgendwo
in Tunesien verschollen war. Der zweite Bürgermeister Velberts wollte sich für
mich einsetzen, doch es war schwieriger, als auf den ersten Blick vermutet:
Emira war nicht in Deutschland gemeldet, also konnte sie auch keinen Pass
beantragen. Um sich in Deutschland anzumelden, muss man
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