02 - Der 'Mann in Weiß'
Tom fragte sich, wie er hierher gekommen war, aber der Gedanke entglitt ihm. Der mit Gold und Federn geschmückte Maya-Priester hielt das noch immer schlagende Herz in seinen hohl geformten Händen und begann mit ihm über die Plattform zu tanzen. Blut lief zwischen seinen Fingern hervor. Der Alte stand unter Drogen, das erkannte Tom an den weit aufgerissenen Augen und den übergroßen Pupillen.
Rund zwei Dutzend weitere Priester und Gehilfen befanden sich auf der Pyramidenplattform in luftiger Höhe ‒ und sieben weitere Opfer, die gefesselt an einer Mauer standen und dem grausamen Treiben hilflos zusehen mussten. Ein Junge, nicht älter als neun, war zusammengesackt und hing bewegungslos in seinen Fesseln. Niemand kümmerte sich um ihn. Tom sah das alles seltsam distanziert, als befände er sich nicht in seinem Körper. Als wäre er in Wahrheit weit, weit weg…
Die Priester fielen auf die Knie, als der Herzträger mit seltsam abgehackten Bewegungen an ihnen vorbei tanzte.
»Chaak, Gott des Regens, der du sterblich bist wie wir Menschen auch, nimm dieses erste Opfer an, damit du weiterleben kannst, und gib uns dafür deine Tränen!«, rezitierte der Oberpriester die vorgeschriebene Opferformel in einem unheimlichen, an- und abschwellenden Singsang. Tom wunderte sich darüber, dass er ihn verstehen konnte, aber auch dieser Gedanke verflog schnell wieder.
»Gib uns deine Tränen in reicher Zahl«, murmelten die schweißüberströmten Knienden und reckten beide Arme in den blauen Himmel. Dann erhoben sich zwei von ihnen. Sie traten an den mittlerweile Toten heran, dessen Körper nun auch zu zucken aufgehört hatte. Mit geübten Schnitten lösten sie die Fesseln, hoben den Leichnam hoch, schleiften ihn an die Kante der Plattform, schwangen ihn ein paarmal hin und her und warfen ihn schließlich in die Tiefe.
Tom stöhnte, als der Tote mit dumpfen Schlägen über die steilen Steinstufen rollte, die ganze Vorderfront der Pyramide hinab, bis er schließlich auf den harten, von der Sonne ausgedörrten Boden klatschte. Auch dies beobachtete Tom in aller Klarheit, obwohl er es von seiner Position aus gar nicht hätte sehen können.
Am Fuße der Pyramide warteten weitere Priester. Sie nahmen den Leichnam in Empfang und machten sich umgehend an die Arbeit. Zuerst köpften sie ihn. Dann trennten sie mit sicheren, tausendmal geübten Schnitten ihrer Obsidianmesser die blau bemalte und nun mit Blut bespritzte Haut vom Fleisch des Torsos. Nur Hände und Füße blieben unangetastet. Ein Auserwählter ließ sich die Haut über die ausgestreckten Unterarme legen und trug sie wie ein Kleid voller Ehrfurcht über die Stufen auf die Plattform zurück, während am Boden der enthäutete Leichnam den Sonnenstrahlen überlassen wurde. Denn Chaak sollte möglichst viel von seinen Opfern bekommen. Rund hundert Maya begannen um die menschlichen Überreste herum im Staub zu tanzen, der dunkel vom Blut vorangegangener Menschenopfer war.
Auf der Plattform legte der Oberpriester das herausgerissene Herz in eine steinerne Schale. Sie war als oben aufgebrochene Sonne gestaltet, deren Strahlen über den Schalenrand hinaus reichten. Während ein Priester eifrig damit begann, das Herz blau anzupinseln, schlüpfte der Oberpriester in die neue Haut, die danach mit Schnüren zugenäht wurde. Sie war ihm etwas zu groß und hing hier und da schlaff herunter.
Nun trat die Albtraumgestalt mit dem prächtigen hohen Federschmuck auf Tom zu und baute sich direkt vor ihm auf, den blutigen Opferdolch zum Stoß erhoben.
Der Archäologe zerrte erneut an den Fesseln. Er wimmerte. Sein Unterkörper zog sich schmerzhaft zusammen, Arme und Beine verkrampften sich. Sein Atem ging nun so schnell, dass er kurz vor dem Hyperventilieren stand; sein Schädel schien von dem wilden Pochen darin in tausend Teile zertrümmert zu werden.
Toms Panik entlud sich in einem lauten Brüllen, als er das Messer unter seinem linken Rippenbogen spürte. Er sah die Sonne auf der scharfen Klinge gleißen, sah den ersten Tropfen seines Bluts unter der Spitze. Furchtbare Schmerzen rasten durch seinen Körper, als das Messer mit zwei tiefen, kreuzförmigen Schnitten in seinen Leib drang. Er spürte die Hand, die folgte und sich unter den Rippen zum Herzen vorwühlte. Ein Gefühl, das ihn fast wahnsinnig werden ließ.
Dann ein Ruck ‒ und der Oberpriester hielt ein neues, zuckendes Herz in der Hand.
Plötzlich waren die Fesseln verschwunden und Tom sprang mit einem Schrei
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