Flucht in die Hoffnung
anwesend sein in
Deutschland. Das ganze Amt suchte eine Lösung für uns. Ich war dankbar für die
Hilfe, doch wir drehten uns im Kreis. Gesetze sind immer auch Auslegungssache.
Sie sind von Menschen gemacht für Menschen. War nicht zumindest ein Teil der
Tochter anwesend, wenn ihre Mutter anwesend war?
Schließlich sagte man uns, dass wir erstens Emira von Mohameds
Eltern holen und sie zweitens zur deutschen Botschaft nach Tunis bringen
sollten, wo sie drittens einen Reisepass beantragen sollte, den sie viertens
erhalten würde. Mit diesem Pass würde sie das Land verlassen. Sozusagen
fünftens.
»Ja, geht denn das?«, fragte ich
entgeistert. So einfach sollte das plötzlich sein?
»Ein Mitarbeiter der deutschen Botschaft wird Sie bis ins Flugzeug
begleiten.«
Ich starrte den Beamten an. »Ganz bestimmt?«
»Selbstverständlich«, lächelte er.
Meine Zuversicht erhielt einen Dämpfer, als Mohameds Vater Hedi uns
anrief und mitteilte, dass Farid in den Bergen nach Emira suche. Offenbar
akzeptierte er ihren Wunsch nicht, sich von ihr fernzuhalten, und wollte Männer
anwerben, die seine Tochter entführen sollten. Da sie jeden Tag den weiten Weg
mit Nawres und anderen Kindern aus der Gegend zur Schule ging, befand sie sich
plötzlich in höchster Gefahr. Ich drehte fast durch, als ich das hörte – denn
wie sollte ich das verhindern, Tausende von Kilometern von meinem Kind entfernt
und ohne Möglichkeit, auf die Schnelle zu ihr zu reisen? Wegen der
gewalttätigen Ausschreitungen gab es derzeit keine Flüge nach Tunesien. Wenn es
Farid gelang, Emira zu entführen, würde er sie irgendwo verstecken, und ich
würde sie nie, nie wiedersehen.
Doch wir hatten Glück – vorerst. Offenbar gelang es Farid wegen
der Unruhen im Land nicht, Polizisten zu finden, die sich um seine Belange
kümmern und sein Besuchsrecht durchsetzen wollten. Die Polizisten fungierten in
dieser Zeit nur noch als Statisten. Die Macht hatte das Militär, das auf der
Seite des Volkes stand. Farid beschloss, die Angelegenheit selbst in die Hand
zu nehmen, und gab sich vor Mohameds Eltern als Notar aus, der das Kind mitnehmen
müsse. Dazu hielt er ihnen irgendwelche Papiere unter die Nase und benahm sich
autoritär-herablassend. Emira – sie war im Haus – erkannte seine Stimme und
versteckte sich zitternd in einem Schrank. Hedi durchschaute den Schwindel und
schickte den falschen Notar fort.
Am Telefon weinte Emira nur noch. Die Angst verschlug ihr die
Sprache – wie ihrer Mutter. So weinten wir gemeinsam, bis Mohamed Emira erklärte,
dass das bestimmt nicht passieren würde, weil seine Familie groß und stark sei
und auf sie aufpassen würde. Ich wünschte, Emira würde ihm mehr glauben als
ich. Ich war wie zerfressen von Sorge um meine Tochter.
FAMILIENZUSAMMENFÜHRUNG
Jeden Tag checkte ich die Flüge im Internet, und als
Tunesien endlich wieder im freien Verkauf angeboten wurde, sicherte ich mir
zwei Plätze in der ersten Maschine nach Tunis. Zuerst hatte ich allein fliegen
wollen, doch wegen der politischen Entwicklungen in der jüngsten Zeit wäre das
zu riskant gewesen. Die hochkriminelle und brutale ehemalige Präsidentengarde
des Diktators Ben Ali streunte durch das Land. In der Bevölkerung wurden diese
Soldaten des Bösen Hunde genannt; es waren in erster
Linie Männer, die ihren Müttern als kleine Kinder weggenommen worden waren und
einen Drill erlitten hatten, der mit der Abrichtung von Kampfhunden vergleichbar
ist. Ein Gewissen kannten sie nicht, ihr Schmerzempfinden war gering.
Die ersten Flüge nach Tunesien landeten ausschließlich in Tunis. Es
gab keine Angebote nach Djerba oder in andere touristische Gebiete. Da ich
Elias noch stillte, hätte es mich völlig überfordert, mit dem Baby die 600 Kilometer
vom Norden in den Süden zu reisen. Die ständige Anspannung war kaum mehr zu
ertragen. Ich war froh um Mohameds Begleitung.
Mit uns im Flugzeug reiste eine Reihe bärtiger Männer, die ihre
Familien seit etlichen Jahren nicht gesehen hatten, weil Ben Ali religiöse
Fundamentalisten rigoros auswies. Damit hatte er den Westen gnädig zu stimmen
gehofft – mit Erfolg, denn der Westen drückte nicht nur ein, sondern beide
Augen und dazu auch noch Ohren zu, um von den Machenschaften des Diktators
nichts zu sehen und zu hören. Auf unserem Flug wurden einige der bärtigen
Männer von mitreisenden Journalisten interviewt. Woher
stammen Sie? Wie lange waren Sie nicht mehr in Ihrer Heimat? Warum wurden Sie
vertrieben? Was
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