Flucht ins Ungewisse
… sind es keine schönen Erinnerungen.“
Sie atmete tief durch, bevor sie fortfuhr. „Sie haben mich von einem städtischen Krankenhaus entführt, als ich fünf war. Bei der Organisation haben sie mich schließlich jahrelang durch unzählige Untersuchungen gequält. Manche der Untersuchungen hab ich längst verdrängt, aber es wird wohl ewig irgendwo in meinem Unterbewusstsein weiterleben.“ Sie zog ihren Mantelärmel ein Stück hoch, entblößte mehrere feine Narben an ihrem Handgelenk, die jenen von Nadelstichen schon sehr ähnlich waren. Die Ränder der Einstichlöcher waren gerötet und bildeten ein Tal in der Mitte. Am Rücken hatte sie ähnliche Wunden. Oft hatte ich sie gefragt, woher diese Narben stammten, aber eine Antwort hatte ich nie bekommen.
„Durch ihre Methoden und Trainingseinheiten, die ich absolvieren musste, haben sie meine Seele immer weiter gestählt, so viel Kraft und Fähigkeiten aus ihr geholt, sie bis zum Äußersten ausgereizt, soweit ich es aushalten konnte. Gleichzeitig bekam ich jedes Mal ein Mittel, das meine Kräfte, die immer außer Kontrolle geraten konnten, unterdrückte, sodass ich für niemanden gefährlich werden konnte.“ Sie stockte, wirkte einen Moment in Gedanken versunken. „Ich durfte meine Mutter nicht sehen, da sie ja nicht einmal wusste, ob ich überhaupt noch lebte. Ich hatte schreckliche Angst vor den Leuten dort und auch die anderen Patienten waren mir nicht ganz geheuer, da sie die Organisation als eine Art Hilfe angesehen hatten. Für sie war es ein Segen, mit ihren Fähigkeiten nicht allein klarkommen zu müssen. Doch für mich war es ein Fluch, da ich wusste, was sie meinem Körper antaten.
Nach etwa zwei Jahren …“ Sie lächelte etwas. „Da habe ich plötzlich etwas in meinem Kopf gespürt. Zuerst wusste ich nicht, was es war. Über Wochen hinweg fühlte es sich so an, als hätte ich Watte in meinem Kopf. Eines Nachts hörte ich dann plötzlich abgehakte Worte, die für mich keinen Sinn ergaben und mir nur Angst eingejagt hatten – immerhin war ich da gerade mal sieben oder so. Aber mit der Zeit gewöhnte ich mich daran und irgendwann, nach unzähligen Gruselnächten, konnte ich ganze Sätze verstehen, doch besonders stark drang dieses traurige Amy! immer wieder durch meine Gedanken.
Es war Lucas. Er hatte selbstständig gelernt mit seinen Kräften umzugehen und die ganze Zeit über nach mir gesucht. Schließlich hat er mich gefunden. Ich war so glücklich nicht mehr allein zu sein. Auch wenn ich ihn nicht sehen konnte … Es war ein Geschenk des Himmels für mich, zumindest die vertraute Stimme meines kleinen Bruders zu hören. Nun wusste ich, dass es meiner Familie gut ging.“
Amandas Blick war starr auf den Boden gerichtet, während sie sprach. Ich hatte mir nie große Gedanken darüber gemacht, was sie vor unserer Begegnung so getrieben hatte. Aber eigentlich war ich immer der Meinung gewesen, sie wäre ein verwöhntes Einzelkind gewesen, das alles bekommen hatte, sobald sie es länger als zehn Sekunden angesehen hatte. Auch wenn mir ihre Narben immer schon zu denken gegeben hatten. Ziemlicher Fehlgedanke, Matt!
Mit einem Blick über die Schulter sagte Amanda dann: „Von Lucas wissen sie zum Glück nichts!“
Sie schreckte mit einem leisen Laut zurück, als sie merkte, dass Cass sie ansah. Der Kühlbeutel lag immer noch auf seiner Stirn, weshalb seine grünen Augen halb verdeckt waren.
„Ich wär mir nich’ so sicher, dass sie’s nich’ wissen“, sagte er. Seine Stimme klang belegt und erschöpft.
„Lucas!“ Amanda drehte sich auf dem Bett und schlang ihre Arme um seinen Hals, was ihrer Schulter ziemlich zusetzen musste. Doch sie gab kein Wimmern von sich. „Seit wann bist du wieder wach? Was ist passiert?“
„Au, Amy, lass mich los!“
Zögernd setzte sie sich wieder auf, ergriff dann aber seine Hand. Cass versuchte auch sich aufzurichten, aber schon nach wenigen Zentimetern, die er sich hoch gezwungen hatte, verzog er sein Gesicht und ließ sich wieder zurücksinken. „Ich werd vorerst liegen bleiben“, erklärte er mit einem halben Lächeln.
„Lucas, was ist passiert?“, drängte Amanda.
Cass schnaubte, nahm den Beutel von seiner Stirn und strich mit einem Finger über die offene Wunde. Seine Augenbraue zuckte dabei. „Der hat mir ’nen Messergriff übergezogen und anschließend versucht mir die Schädeldecke wegzurasieren. Ich hab ihn irgendwie ausgeschaltet. Es war nich’ wirklich schlimm, aber irgendwo hab
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