Flucht ins Ungewisse
gesellte sich wieder zu den anderen, die das Ganze von der Weite aus beobachtet hatten.
„Cass?“, fragte ich vorsichtig.
Er sah mich an. Die Dunkelheit war aus seinem Gesicht verschwunden.
„Warum hast du aufgehört mit ihnen zu fahren?“, fragte ich.
Dieser Blick vorhin … Ich kannte Cass viel zu wenig, als dass ich ihm blind vertrauen konnte. Warum also tat ich es trotzdem?
Wie zuvor vor dem Schulgebäude begann er an seinem Flügelring zu drehen. „Wegen meiner Schwester“, murmelte er.
„Wegen deiner Schwester?“, fragte ich verdutzt. Ihre Beziehung erschien mir letztens nicht so perfekt, aber vielleicht hatte ich mich auch getäuscht.
„Ach, vergiss es besser wieder“, wehrte er ab und begann in seinem Rucksack zu kramen. „Ich hab etwas für dich!“
Für mich? Ich lehnte mich etwas vor, um besser sehen zu können, was er aus seinem Rucksack holte. Ein kleines weinrotes Päckchen. Er drehte es geschickt zwischen seinen Fingern, bevor er es mir auf seiner Handfläche präsentierte. „Hier! Ich hoffe, es gefällt dir! Es ist ein kleiner Glücksbringer.“
„Glücksbringer?“ Zögernd nahm ich das Päckchen, öffnete es und schluckte.
Ein beinah hauchdünner silberner Flügel lag inmitten eines kleinen weißen Seidentuches. Ich hatte noch nie Schmuck von jemandem bekommen. Abgesehen davon trug ich ohnehin nie wirklich welchen.
„Und du bist sicher, du schenkst das der richtigen Person?“
Cass lachte gedämpft. „Es soll dich an mich erinnern, wenn’s dir mal nicht gut geht“, sagte er leise. Seinem Blick nach zu urteilen war er mit den Gedanken ganz woanders.
Gerade als ich ihn fragen wollte, was er damit meinte, spürte ich das lautlose Vibrieren meines Handys. Oder besser gesagt vom Zweithandy meines Dads.
Margret!
„Was ist?“, nahm ich den Anruf murrend entgegen.
Ich hörte ein Schluchzen. „Lorianna!“ Das klang gar nicht gut. „John … Äh, dein Vater … Er ist … zusammengebrochen! Er ist im Krankenhaus!“
Und für einen schwindend kurzen Augenblick brach meine Welt vollständig in sich zusammen.
„Was?“, brachte ich erstickt hervor.
3
Matthew Tempson:
„Das kann ich nicht …“
„Du quälst dich doch völlig umsonst“, meinte Nick. „Letztes Mal ist doch alles gut gegangen. So brichst du noch zusammen.“
Sollte das aufmunternd sein? Einmal wäre es fast zum schlimmsten Fall gekommen und ich wollte nicht, dass ich das Fast aus dem Satz streichen musste.
„Mir geht’s gut“, wiederholte ich wie ein Tonband, als wir über die stark verrosteten Gleise stiegen.
Aber Lora ging es nicht gut, dessen war ich mir schmerzlich bewusst. Immerhin zerrte sie jetzt auch an mir, nicht nur Amanda. Ich spürte es, wenn es einer von beiden schlecht ging.
Es waren nun etwas mehr als zwei Wochen vergangen, seit ich den Mann von seinem Seelenleid befreit hatte. Anscheinend würde sich die Zeitspanne weiter verkürzen, wenn ich dieses Siegel nicht bald loswerden würde. Heute Morgen hatten mir wieder diese verräterischen Silberkreuze im Spiegel entgegengeblitzt. Und sie hielten bereits den ganzen Tag über an, weshalb ich mit Sonnenbrille in der Klasse sitzen musste … Manche Lehrer waren nicht sehr begeistert von meinem Auftreten. Aber da ich ohnehin schon ein eher schlechtes Image bei den Lehrern hatte, brach mir das auch nichts ab.
„Ich bin auch dafür, dass du etwas dagegen machst und nicht darauf wartest, dass es von allein verschwindet“, sagte Jess, die die Tür hinter sich schloss und sich dann im Schneidersitz neben mich auf die Couch fallen ließ. Nick betrachtete sie skeptisch. „Das ist auch schon mal nach hinten losgegangen!“
Ich wusste, dass sie beide recht hatten.
Aber mit dem Wissen zu leben, dass man immer mehr Menschen ihrer Lebenszeit beraubte, war nicht gerade amüsant. Nein, im Gegenteil, es war beschissen!
Nick hob ruckartig seinen Kopf. Es sah aus, als wäre ihm ein Geistesblitz durch den Kopf geschossen. „Du solltest auch an Lora denken. Immerhin ist doch jetzt auch sie davon …“ Er überlegte, zog die Augenbrauen zusammen. „Abhängig oder so.“
Lora …
Ich fragte mich, wohin sie wohl mit diesem Typen aus ihrer Klasse verschwunden war. Die beiden schlenderten immer gemeinsam durch die Flure oder saßen zusammen in der Kantine.
War ich ihre Mutter? Oder etwa eifersüchtig?
Ich unterdrückte ein Seufzen.
Sie konnte doch tun und lassen, was verdammt noch mal sie wollte! Und dennoch …
„Ich werde mich in den
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