Flucht ins Ungewisse
eine Kleinigkeit sein.
Ich schluckte, als ich unten die Eingangstür hörte. Margret musste jetzt auf dem Weg zu ihrer Nachtschicht in der Redaktion sein. Sie meinte, dass sie gerade an einem wichtigen Artikel arbeitete, der keinen Aufschub erlaubte. Wie konnte sie nach allem, was mit Dad passiert war, nur an Arbeit denken?
Ich stand bereits vollständig angezogen an meinem Fenster und beobachtete, wie Margret ihr Auto rückwärts aus der Einfahrt schob. Ziemlich ungeschickt, wenn man mich fragte. Fast hätte sie den Straßenmast mitgenommen …
Nachdem die Lichter des kleinen, pedantisch geputzten Cabrios nicht mehr zu sehen waren, schob ich das Fenster hoch. Margret hatte bestimmt abgeschlossen, und da ich immer noch Hausarrest hatte und ohnehin keinen Schlüssel besaß, blieb mir wohl nichts anders übrig, als diesen Weg zu nehmen. Doch diesmal würde ich mich geschickter anstellen, als bei meinem ersten Versuch.
Ich setzte mich auf das Fenstersims und ließ die Beine an der Außenwand baumeln. Nach ein paar tiefen Atemzügen drehte ich mich so gut ich konnte um, klammerte mich mit beiden Händen an das Sims und versuchte irgendeinen Halt mit den Beinen an der Wand zu finden. Nicht dass ich wirklich festen Stand hatte, so seitlich an der Wand. Ich war ja immerhin nicht Spiderman. Aber ich fiel zumindest nicht. Bis meine Hände plötzlich zu rutschen begannen. Ohne dass ich etwas dagegen unternehmen hätte können, plumpste ich wie ein gefüllter Sandsack auf das kalte Dach und blieb dort auf dem Rücken liegen. Für ein paar Sekunden bekam ich keine Luft.
Na, wenigstens bin ich diesmal nicht wieder in den Komposthaufen unseres Nachbarn gefallen. Ich rollte mich seitlich auf die Beine.
„Gut“, sagte ich mir selbst. Ich lebe noch!
Aber ich fragte mich, weshalb ich mich so verdammt geschwächt und ausgesaugt fühlte.
Nachdem ich es irgendwie geschafft hatte, heil vom Dach runterzukommen, stolperte ich den Kiesweg entlang.
Es kann wohl kaum so schwer sein, dass ich bis zum Krankenhaus komme. Wo auch immer das sein soll …
Ich hatte die Schule geschwänzt, mich einfach geweigert aus meinem Zimmer zu kommen. Stattdessen hatte ich den ganzen Tag über mit Simon und Cass (und sogar etwas mit Liz) gemailt und gesimst. Sie alle hatten versucht mich aufzumuntern. Sagten mir, dass es meinem Dad bestimmt bald wieder besser gehen würde. Cass hatte sogar vorgeschlagen mit mir gemeinsam ins Krankenhaus zu fahren, was ich aber nach langem Überlegen abgelehnt hatte.
Vielleicht war dieses Gebrochene-Seelen-Dings ja ansteckend. Ich hatte keine Ahnung! Matt wäre meine letzte Hoffnung gewesen. Aber wenn er nicht wollte … Bitte, dann halt nicht! Ich würde auch ohne ihn einen Weg finden, meinen Dad zu retten. Immerhin hatte ich Matts Blut in mir, das musste doch zu irgendetwas gut sein.
Nachdem ich mich halbwegs bei den wenigen Passanten, die so spät noch auf der Straße waren, durchgefragt hatte, stand ich schließlich vor der Klinik. Schon von außen sah das Gebäude spiegelblank poliert und modern aus.
Ich lehnte mich an die Hausmauer des gegenüberliegenden Wohnviertels und dachte nach. Es war eisigkalt, sodass ich die Arme vor der Brust verschränkte, um nicht jämmerlich zu erfrieren.
Laut Margret durfte weder sie noch ich zu Dad. Er war immer noch bewusstlos und die Ärzte meinten, es sei besser für seinen Gesundheitszustand, wenn er niemanden um sich hätte.
Ich ließ meinen Kopf zur Seite kippen, sodass er an der kalten Wand aufkam. Wie sollte ich etwas unternehmen, wenn ich nicht einmal zu ihm durfte?
„Warum muss alles so kompliziert sein?“, fragte ich flüsternd.
Ein stechendkaltes Gefühl an meinem Gesicht, welches eindeutig nicht von den Wetterbedingungen kam, ließ mich zusammenzucken. Ich wollte einen Schritt nach vorn machen, doch jemand hielt mich am Arm fest. Das wispernd kalte Gefühl an meiner Schläfe blieb.
„Nicht so schnell, junge Lady.“ Ich erschrak bei dem Tonfall.
Der Mann riss mich am Arm zurück, drückte mich mit dem Rücken gegen die Wand, sodass mir die Luft wegblieb. Ich konnte sein Gesicht kaum erkennen, da es bereits nach acht Uhr und stockfinster war. Wären die wenigen Straßenlaternen nicht gewesen, hätte ich nicht einmal seine Silhouette erkannt.
„Letztes Mal bist du uns entkommen, aber heute wird sich das ändern!“ Ich konnte das Grinsen deutlich in seiner Stimme hören. Sollte ich schreien? Wahrscheinlich schon, aber was dann? Er würde mich sicher
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